pragueclock.jpg

2024/10/09 - 21:19

Heft 1

Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.

"Wenn er mich immer frägt" das ä losgelöst vom Satz flog dahin wie ein Ball auf der Wiese.

Sein Ernst bringt mich um. Den Kopf im Kragen, die Haare unbeweglich um den Schädel geordnet, die Muskeln unten an den Wangen an ihrem Platz gespannt

Ist der Wald noch immer da?Der Wald war noch so ziemlich da. Kaum aber war mein Blick zehn Schritte weit, ließ ich ab wieder eingefangen vom langweiligen Gespräch.

Im dunklen Wald im durchweichten Boden fand ich mich nur durch das Weiß seines Kragens zurecht.

Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa, sie möchte doch den Czardas noch einmal tanzen. Sie hatte einen breiten Streifen Schatten oder Licht mitten im Gesicht zwischen dem untern Stirnrand und der Mitte des Kinns. Gerade kam jemand mit den ekelhaften Bewegungen des unbewußten Intriganten, um ihr zu sagen, der Zug fahre gleich. Durch die Art wie sie die Meldung anhörte, wurde mir schrecklich klar, daß sie nicht mehr tanzen werde. "Ich bin ein böses schlechtes Weib nicht wahr?" sagte sie. Oh nein sagte ich das nicht und wandte mich in eine beliebige Richtung zum Gehn.

Vorher fragte ich sie über die vielen Blumen aus, die in ihrem Gürtel steckten. "Die sind von allen Fürsten Europas" sagte sie. Ich dachte nach, was das für einen Sinn habe, daß diese Blumen, die frisch in dem Gürtel steckten der Tänzerin Eduardowa von allen Fürsten Europas geschenkt worden waren.

Die Tänzerin Eduardowa, eine Liebhaberin der Musik fährt wie überall so auch in der Elektrischen in Begleitung zweier Violinisten, die sie häufig spielen läßt. Denn es besteht kein Verbot, warum in der Elektrischen nicht gespielt werden dürfte, wenn das Spiel gut, den Mitfahrenden angenehm ist und nichts kostet d. h. wenn nachher nicht eingesammelt wird. Es ist allerdings im Anfang ein wenig überraschend und ein Weilchen lang findet jeder, es sei unpassend. Aber bei voller Fahrt, starkem Luftzug und stiller Gasse klingt es hübsch.

Die Tänzerin Eduardowa ist im Freien nicht so hübsch wie auf der Bühne. Die bleiche Farbe, diese Wangenknochen, welche die Haut so spannen, daß im Gesicht kaum eine stärkere Bewegung ist, die große Nase – die sich wie aus einer Vertiefung erhebt –, mit der man keine Späße machen kann, wie die Härte der Spitze prüfen oder sie am Nasenrücken leicht fassen und hin und her ziehn wobei man sagt "jetzt aber kommst Du mit", die breite Gestalt mit hoher Taille in allzu faltigen Röcken, wem kann das gefallen – sie sieht fast einer meiner Tanten einer ältlichen Dame ähnlich, viele ältere Tanten vieler Leute sehn ähnlich aus. Für diese Nachteile aber findet sich bei der Eduardowa im Freien außer den ganz guten Füßen, eigentlich kein Ersatz, da ist wirklich nichts, was zum Schwärmen Staunen oder auch nur zur Achtung Anlaß gäbe. Und so habe ich auch die Eduardowa sehr oft mit einer Gleichgültigkeit behandelt gesehn, die selbst sonst sehr gewandte, sehr korrekte Herren nicht verbergen konnten, obwohl sie sich natürlich viele Mühe in dieser Richtung gaben einer solchen bekannten Tänzerin gegenüber, wie es die Eduardowa immerhin war.

Meine Ohrmuschel fühlte sich frisch rauh kühl saftig an wie ein Blatt.

Ich schreibe das ganz bestimmt aus Verzweiflung über meinen Körper und über die Zukunft mit diesem Körper

Wenn sich die Verzweiflung so bestimmt gibt so an ihren Gegenstand gebunden ist, so zurückgehalten wie von einem Soldaten, der den Rückzug deckt und sich dafür zerreißen läßt, dann ist es nicht die richtige Verzweiflung. Die richtige Verzweiflung hat ihr Ziel gleich und immer überholt, (Bei diesem Beistrich zeigte es sich, daß nur der erste Satz richtig war)

Bist Du verzweifelt?

Ja? du bist verzweifelt?

Laufst weg? Willst Dich verstecken?

Ich gieng an dem Bordell vorüber, wie an dem Haus einer Geliebten

Schriftsteller reden Gestank

Die Weißnähterinnen in den Regengüssen

Aus dem Coupeefenster

Endlich nach fünf Monaten meines Lebens, in denen ich nichts schreiben konnte womit ich zufrieden gewesen wäre und die mir keine Macht ersetzen wird, trotzdem alle dazu verpflichtet wären, komme ich auf den Einfall wieder einmal mich anzusprechen. Darauf antwortete ich noch immer, wenn ich mich wirklich fragte, hier war noch immer etwas aus mir herauszuschlagen, aus diesem Strohhaufen, der ich seit fünf Monaten bin und dessen Schicksal es zu sein scheint, im Sommer angezündet zu werden und zu verbrennen, rascher als der Zuschauer mit den Augen blinzelt. Wollte das doch nur mit mir geschehn! Und zehnfach sollte mir das geschehn, denn ich bereue nicht einmal die unglückselige Zeit. Mein Zustand ist nicht Unglück, aber er ist auch nicht Glück, nicht Gleichgültigkeit nicht Schwäche, nicht Ermüdung, nicht anderes Interesse, also was ist er denn? Daß ich das nicht weiß hängt wohl mit meiner Unfähigkeit zu schreiben zusammen. Und diese glaube ich zu verstehn, ohne ihren Grund zu kennen. Alle Dinge nämlich die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte. Versuche sie dann jemand zu halten, versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu halten das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt. Das können wohl einzelne z. B. japanische Gaukler, die auf einer Leiter klettern, die nicht auf dem Boden aufliegt, sondern auf den emporgehaltenen Sohlen eines halb Liegenden und die nicht an der Wand lehnt sondern nur in die Luft hinaufgeht. Ich kann es nicht, abgesehen davon daß meiner Leiter nicht einmal jene Sohlen zu Verfügung stehn. Es ist das natürlich nicht alles, und eine solche Anfrage bringt mich noch nicht zum Reden. Aber jeden Tag soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden wie man die Fernrohre jetzt gegen den Kometen richtet. Und wenn ich dann einmal vor jenem Satze erscheinen würde, hergelockt von jenem Satze, so wie ich z. B. letzte Weihnachten gewesen bin und wo ich so weit war, daß ich mich nur noch gerade fassen konnte und wo ich wirklich auf der letzten Stufe meiner Leiter schien, die aber ruhig auf dem Boden stand und an der Wand. Aber was für ein Boden! was für eine Wand! Und doch fiel jene Leiter nicht, so drückten sie meine Füße an den Boden, so hoben sie meine Füße an die Wand.

Ich habe heute z. B. drei Frechheiten gemacht, gegenüber einem Kondukteur, gegenüber einem mir Vorgestellten, so es waren nur 2, aber sie schmerzen mich wie Magenschmerzen. Von Seite eines jeden Menschen wären es Frechheiten gewesen, wie erst von meiner Seite. Ich gieng also aus mir heraus, kämpfte in der Luft im Nebel und das ärgste daß es niemand merkte, daß ich auch gegenüber meinen Begleitern die Frechheit als eine Frechheit machte, machen mußte, die richtige Miene, die Verantwortung tragen mußte; das schlimmste aber war, als einer meiner Bekannten diese Frechheit nicht einmal als Zeichen eines Charakters, sondern als den Charakter selbst nahm, mich auf meine Frechheit aufmerksam machte und sie bewunderte. Warum bleibe ich nicht in mir? Jetzt sage ich mir allerdings: schau, die Welt läßt sich von Dir schlagen, der Kondukteur und der Vorgestellte blieben ruhig als Du weggiengst, der letztere grüßte sogar. Das bedeutet aber nichts. Du kannst nichts erreichen, wenn Du Dich verläßt, aber was versäumst Du überdies in Deinem Kreis. Auf diese Ansprache antworte ich nur: auch ich ließe mich lieber im Kreis prügeln, als außerhalb selbst zu prügeln, aber wo zum Teufel ist dieser Kreis Eine Zeitlang sah ich ihn ja auf der Erde liegen, wie mit Kalk ausgespritzt, jetzt aber schwebt er mir nur so herum, ja schwebt nicht einmal.

17/18 (18./19.) Mai (1910) Kometennacht

Mit Blei, seiner Frau u. seinem Kind beisammengewesen, mich aus mir heraus zeitweilig gehört, wie das Winseln einer jungen Katze beiläufig, aber immerhin.

Wieviel Tage sind wieder stumm vorüber; heute ist der 29. Mai. Habe ich nicht einmal die Entschlossenheit, diesen Federhalter, dieses Stück Holz täglich in die Hand zu nehmen. Ich glaube schon, daß ich sie nicht habe. Ich rudere, reite, schwimme, liege in der Sonne. Daher sind die Waden gut, die Schenkel nicht schlecht, der Bauch geht noch an, aber schon die Brust ist sehr schäbig und wenn mir der Kopf im Genick

Sonntag, den 19. Juni 10 geschlafen aufgewacht, geschlafen, aufgewacht, elendes Leben

Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat. Ich bin ja nicht irgendwo abseits, vielleicht in einer Ruine in den Bergen erzogen worden, dagegen könnte ich ja kein Wort des Vorwurfes herausbringen. Auf die Gefahr hin, daß die ganze Reihe meiner vergangenen Lehrer dies nicht begreifen kann, gerne und am liebsten wäre ich jener kleine Ruinenbewohner gewesen, abgebrannt von der Sonne, die da zwischen den Trümmern von allen Seiten auf den lauen Epheu mir geschienen hätte, wenn ich auch im Anfang schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften, die mit der Macht des Unkrauts in mir emporgewachsen wären

Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat. Dieser Vorwurf trifft eine Menge Leute nämlich meine Eltern, einige Verwandte, einzelne Besucher unseres Hauses, verschiedene Schriftsteller, eine ganz bestimmte Köchin, die mich ein Jahr lang zur Schule führte, einen Haufen Lehrer, (die ich in meiner Erinnerung eng zusammendrücken muß, sonst entfällt mir hie und da einer da ich sie aber so zusammengedrängt habe, bröckelt wieder das ganze stellenweise ab) ein Schulinspektor langsam gehende Passanten kurz dieser Vorwurf windet sich wie ein Dolch durch die Gesellschaft. Auf diesen Vorwurf will ich keine Widerrede hören, da ich schon zuviele gehört habe und da ich in den meisten Widerreden auch widerlegt worden bin, beziehe ich diese Widerreden mit in meinen Vorwurf und erkläre nun meine Erziehung und diese Widerlegung haben mir in mancherlei Richtung sehr geschadet.

Oft überlege ich es und immer muß ich dann sagen, daß mir meine Erziehung in manchem sehr geschadet hat. Dieser Vorwurf geht gegen eine Menge Leute, allerdings sie stehn hier beisammen, wissen wie auf alten Gruppenbildern nichts miteinander anzufangen, die Augen niederzuschlagen fällt ihnen gerade nicht ein und zu lächeln wagen sie vor Erwartung nicht. Es sind da meine Eltern, einige Verwandte einige Lehrer, eine ganz bestimmte Köchin, einige Mädchen aus Tanzstunden, einige Besucher unseres Hauses aus früherer Zeit, einige Schriftsteller, ein Schwimmeister, ein Billeteur, ein Schulinspektor, dann einige denen ich nur einmal auf der Gasse begegnet bin und andere, an die ich mich gerade nicht erinnern kann und solche, an die ich mich niemals mehr erinnern werde und solche endlich, deren Unterricht ich irgendwie damals abgelenkt überhaupt nicht bemerkt habe, kurz es sind so soviele daß man acht geben muß einen nicht zweimal zu nennen. Und ihnen allen gegenüber spreche ich meinen Vorwurf aus, mache sie auf diese Weise mit einander bekannt, dulde aber keine Widerrede. Denn ich habe wahrhaftig schon genug Widerreden ertragen und da ich in den meisten widerlegt worden bin, kann ich nicht anders als auch diese Widerlegungen in meinen Vorwurf miteinzubeziehn und zu sagen daß mir außer meiner Erziehung auch diese Widerlegungen in manchem sehr geschadet haben.

Erwartet man vielleicht, daß ich irgendwo abseits erzogen worden bin? Nein, mitten in der Stadt bin ich erzogen worden mitten in der Stadt. Nicht zum Beispiel in einer Ruine in den Bergen oder am See. Meine Eltern und ihr Gefolge waren bis jetzt von meinem Vorwurf bedeckt und grau; nun schieben sie ihn leicht beiseite und lächeln, weil ich meine Hände von ihnen weg an meine Stirn gezogen habe und denke: Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen, horchend ins Geschrei der Dohlen, von ihren Schatten überflogen, auskühlend unter dem Mond, abgebrannt von der Sonne, die zwischen den Trümmern hindurch auf mein Epheulager von allen Seiten mir geschienen hätte, wenn ich auch am Anfang ein wenig schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften die mit der Macht des Unkrauts in mir hätten wachsen müssen.

Oft überlege ich es und lasse den Gedanken ihren Lauf ohne mich einzumischen und immer, wie ich es auch wende, komme ich zum Schluß, daß mir in manchem meine Erziehung schrecklich geschadet hat. In dieser Erkenntnis steckt ein Vorwurf der gegen eine Menge Leute geht. Da sind die Eltern, mit den Verwandten, eine ganz bestimmte Köchin, die Lehrer, einige Schriftsteller, befreundete Familien, ein Schwimmeister, Eingeborene der Sommerfrischen, einige Damen im Stadtpark denen man es gar nicht ansehn würde, ein Friseur eine Bettlerin, ein Steuermann der Hausarzt und noch viele andere und es wären noch mehr, wenn ich sie alle mit Namen bezeichnen wollte und könnte kurz es sind so viele, daß man achtgeben muß damit man nicht im Haufen einen zweimal nennt. Nun könnte man meinen, schon durch diese große Anzahl verliere ein Vorwurf an Festigkeit, und müsse einfach an Festigkeit verlieren, denn ein Vorwurf sei kein Feldherr, er gehe nur geradeaus und wisse sich nicht zu verteilen. Gar in diesem Falle, wenn er sich gegen vergangene Personen richtet. Diese Personen mögen mit einer vergessenen Energie in der Erinnerung festgehalten werden, einen Fußboden werden sie kaum mehr unter sich haben und selbst ihre Beine werden schon Rauch sein. Und Leuten in solchem Zustand soll man nun mit irgendeinem Nutzen Fehler vorwerfen, die sie in früheren Zeiten einmal bei der Erziehung eines Jungen gemacht haben der ihnen jetzt so unbegreiflich ist wie sie uns. Aber man bringt sie ja nicht einmal dazu sich an jene Zeiten zu erinnern, sie können sich an nichts erinnern und dringt man auf sie ein, schieben sie einen stumm bei Seite, kein Mensch kann sie dazu zwingen, aber offenbar kann man gar nicht von zwingen reden, denn höchstwahrscheinlich hören sie gar nicht die Worte. Wie müde Hunde stehn sie da, weil sie alle ihre Kraft dazu verbrauchen um in der Erinnerung aufrecht zu bleiben. Wenn man sie aber wirklich dazu brächte zu hören und zu reden, dann würde es einem von Gegenvorwürfen nur so in den Ohren sausen, denn die Menschen nehmen die Überzeugung von der Ehrwürdigkeit der Toten ins Jenseits mit und vertreten sie von dort aus zehnfach. Und wenn diese Meinung vielleicht nicht richtig wäre und die Toten eine besonders große Ehrfurcht vor den Lebenden hätten, dann werden sie sich erst recht ihrer lebendigen Vergangenheit annehmen, die ihnen doch am nächsten steht und wieder würden uns die Ohren sausen. Und wenn auch diese Meinung nicht richtig wäre und die Toten gerade sehr unparteiisch wären, so könnten sie es auch dann niemals billigen, daß man mit unbeweisbaren Vorwürfen sie stört. Denn solche Vorwürfe sind schon von Mensch zu Mensch unbeweisbar. Weder das Dasein von vergangenen Fehlern in der Erziehung ist zu beweisen wie erst die Urheberschaft. Und nun zeige man den Vorwurf, der sich in solcher Lage nicht in einen Seufzer verwandelte.

Das ist der Vorwurf, den ich zu erheben habe. Er hat ein gesundes Innere, die Teorie erhält ihn. Das was an mir wirklich verdorben worden ist, aber vergesse ich vorerst oder verzeihe es und mache noch keinen Lärm damit. Dagegen kann ich jeden Augenblick beweisen, daß meine Erziehung einen andern Menschen aus mir machen wollte, als den der ich geworden bin. Den Schaden also, den mir meine Erzieher nach ihrer Absicht hätten zufügen können, den mache ich ihnen zum Vorwurf, verlange aus ihren Händen den Menschen der ich jetzt bin und da sie mir ihn nicht geben können mache ich ihnen aus Vorwurf und Lachen ein Trommelschlagen bis in die jenseitige Welt hinein. Doch dient das alles nur einem andern Zweck. Der Vorwurf darüber, daß sie mir doch ein Stück von mir verdorben haben ein gutes schönes Stück verdorben haben – im Traum erscheint es mir manchmal wie andern die tote Braut – dieser Vorwurf, der immer auf dem Sprung ist, ein Seufzer zu werden, er soll vor allem unbeschädigt hinüber kommen als ein ehrlicher Vorwurf der er auch ist. So geschieht es, der große Vorwurf dem nichts geschehen kann nimmt den kleinen bei der Hand, geht der große hüpft der Kleine, ist aber der kleine einmal drüben, zeichnet er sich noch aus, wir haben es immer erwartet und bläst zur Trommel die Trompete.

Oft überlege ich es und lasse den Gedanken ihren Lauf, ohne mich einzumischen, aber immer komme ich zu dem Schluß, daß mich meine Erziehung mehr verdorben hat als ich es verstehen kann. In meinem Äußern bin ich ein Mensch wie andere, denn meine körperliche Erziehung hielt sich ebenso an das Gewöhnliche, wie auch mein Körper gewöhnlich war, und wenn ich auch ziemlich klein und etwas dick bin, gefalle ich doch vielen, auch Mädchen. Darüber ist nichts zu sagen. Noch letzthin sagte eine etwas sehr Vernünftiges "Ach, könnte ich sie doch einmal nackt sehn da müssen Sie erst hübsch und zum küssen sein" sagte sie. Wenn mir aber hier die Oberlippe, dort die Ohrmuschel, hier eine Rippe, dort ein Finger fehlte, wenn ich auf dem Kopf haarlose Flecke und Pockennarben im Gesichte hätte, es wäre noch kein genügendes Gegenstück meiner innern Unvollkommenheit. Diese Unvollkommenheit ist nicht angeboren und darum desto schmerzlicher zu tragen. Denn wie jeder habe ich auch von Geburt aus meinen Schwerpunkt in mir, den auch die närrischeste Erziehung nicht verrücken konnte. Diesen guten Schwerpunkt habe ich noch aber gewissermaßen nicht mehr den zugehörigen Körper. Und ein Schwerpunkt, der nichts zu arbeiten hat, wird zu Blei und steckt im Leib wie eine Flintenkugel. Jene Unvollkommenheit ist aber auch nicht verdient, ich habe ihr Entstehn ohne mein Verschulden erlitten. Darum kann ich in mir auch nirgends Reue finden, so viel ich sie auch suche. Denn Reue wäre für mich gut, sie weint sich ja in sich selbst aus; sie nimmt den Schmerz bei Seite und erledigt jede Sache allein wie einen Ehrenhandel; wir bleiben aufrecht indem sie uns erleichtert.

Meine Unvollkommenheit ist, wie ich sagte nicht angeboren, nicht verdient, trotzdem ertrage ich sie besser, als andere unter großer Arbeit der Einbildung mit ausgesuchten Hilfsmitteln viel kleineres Unglück ertragen eine abscheuliche Ehefrau z. B., ärmliche Verhältnisse, elende Berufe und bin dabei keineswegs schwarz vor Verzweiflung im Gesicht, sondern weiß und rot

Ich wäre es nicht wenn meine Erziehung so weit in mich gedrungen wäre, wie sie wollte. Vielleicht war meine Jugend zu kurz dazu, dann lobe ich ihre Kürze noch jetzt in meinen vierziger Jahren aus voller Brust. Nur dadurch war es möglich, daß mir noch Kräfte bleiben, um mir der Verluste meiner Jugend bewußt zu werden, weiter, um diese Verluste zu verschmerzen, weiter, um Vorwürfe gegen die Vergangenheit nach allen Seiten zu erheben und endlich ein Rest von Kraft für mich selbst. Aber alle diese Kräfte sind wieder nur ein Rest jener die ich als Kind besaß und die mich mehr als andere den Verderbern der Jugend ausgesetzt haben, ja ein guter Rennwagen wird vor allen von Staub und Wind verfolgt und überholt und seinen Rädern fliegen die Hindernisse entgegen, daß man fast an Liebe glauben sollte.

Was ich jetzt noch bin, wird mir am deutlichsten in der Kraft mit der die Vorwürfe aus mir herauswollen. Es gab Zeiten wo ich in mir nichts anderes als von Wuth getriebene Vorwürfe hatte, daß ich bei körperlichem Wohlbefinden mich auf der Gasse an fremden Leuten festhielt, weil sich die Vorwürfe in mir von einer Seite auf die andere warfen, wie Wasser in einem Becken, das man rasch trägt.

Jene Zeiten sind vorüber. Die Vorwürfe liegen in mir herum, wie fremde Werkzeuge, die zu fassen und zu heben ich kaum den Muth mehr habe. Dabei scheint die Verderbnis meiner alten Erziehung mehr und mehr in mir von neuem zu wirken, die Sucht sich zu erinnern, vielleicht eine allgemeine Eigenschaft der Junggesellen meines Alters öffnet wieder mein Herz jenen Menschen, welche meine Vorwürfe schlagen sollten und ein Ereignis wie das gestrige früher so häufig wie das Essen ist jetzt so selten, daß ich es notiere.

Aber darüber hinaus noch bin ich selbst ich der jetzt die Feder weggelegt hat, um das Fenster zu öffnen, vielleicht die beste Hilfskraft meiner Angreifer. Ich unterschätze mich nämlich und das bedeutet schon ein Überschätzen der andern aber ich überschätze sie noch außerdem und abgesehen davon schade ich mir noch geradeaus. Überkommt mich Lust zu Vorwürfen, schaue ich aus dem Fenster. Wer leugnet es, daß dort in ihren Booten die Angler sitzen, wie Schüler, die man aus der Schule auf den Fluß getragen hat; gut, ihr Stillehalten ist oft unverständlich wie jenes der Fliegen auf der Fensterscheiben. Und über die Brücke fahren natürlich die Elektrischen wie immer mit vergröbertem Windesrauschen und läuten wie verdorbene Uhren, kein Zweifel, daß der Polizeimann schwarz von unten bis hinauf mit dem gelben Licht der Medaille auf der Brust an nichts anderes als an die Hölle erinnert und nun mit Gedanken ähnlich den meinen einen Angler betrachtet, der sich plötzlich, weint er hat er eine Erscheinung oder zuckt der Kork, zum Bootsrand bückt. Das alles ist richtig aber zu seiner Zeit jetzt sind nur die Vorwürfe richtig.

Sie gehn gegen eine Menge Leute, das kann ja erschrecken und nicht nur ich auch jeder andere würde lieber aus dem offenen Fenster den Fluß ansehn. Da sind die Eltern und die Verwandten, daß sie mir aus Liebe geschadet haben, macht ihre Schuld noch größer, denn wie sehr hätten sie mir aus Liebe nützen können, dann befreundete Familien mit bösem Blick aus Schuldbewußtsein machen sie sich schwer und wollen nicht in die Erinnerung hinauf, dann die Haufen der Kindermädchen, der Lehrer und der Schriftsteller und eine ganz bestimmte Köchin mitten unter ihnen, dann zur Strafe ineinander übergehend ein Hausarzt, ein Friseur, ein Steuermann, eine Bettlerin, ein Papierverkäufer, ein Parkwächter, ein Schwimmeister dann fremde Damen aus dem Stadtpark denen man es gar nicht ansehn würde, Eingeborene der Sommerfrischen als Verhöhnung der unschuldigen Natur und viele andere; aber es wären noch mehr, wenn ich sie alle mit Namen nennen wollte und könnte, kurz es sind so viele daß man achtgeben muß, daß man nicht einen zweimal nennt.

Ich überlege es oft und lasse den Gedanken ihren Lauf ohne mich einzumischen, aber immer komme ich zu dem gleichen Schluß, daß die Erziehung mich mehr verdorben hat, als alle Leute, die ich kenne und mehr als ich begreife. Doch kann ich das nur einmal von Zeit zu Zeit ansprechen, denn fragt man mich danach: "Wirklich? Ist das möglich? Soll man das glauben" schon suche ich es aus nervösem Schrecken einzuschränken.

Außen schaue ich wie jeder andere aus; habe Beine Rumpf und Kopf, Hosen, Rock und Hut; man hat mich ordentlich turnen lassen und wenn ich dennoch ziemlich klein und schwach geblieben bin so war das eben nicht zu vermeiden. Im übrigen gefalle ich vielen, selbst jungen Mädchen, und denen ich nicht gefalle die finden mich doch erträglich.

Es wird berichtet und wir sind aufgelegt es zu glauben daß Männer in Gefahr selbst schöne fremde Frauen für nichts achten; sie stoßen sie an die Mauer, stoßen sie mit Kopf und Händen, Knien und Ellenbogen, wenn sie einmal durch diese Frauen an der Flucht aus dem brennenden Teater gehindert sind. Da schweigen unsere plauderhaften Frauen, ihr endloses Reden bekommt Zeitwort und Punkt, die Augenbrauen steigen aus ihrer Ruhelage auf, die Athembewegung der Schenkel und Hüften setzt aus, in den vor Angst nur lose geschlossenen Mund fährt mehr Luft als gewöhnlich und die Wangen scheinen ein wenig aufgeblasen.

Sand: die Franzosen sind alle Komödianten; aber nur die schwächsten unter ihnen spielen Komödie

Claqueure in den französischen Teatern: Befehlshaber im Parterre. Ha-Ha für die nächsten, Zeitung fallen lassen für die Galleriemänner

Holzhammer zeigt den Anfang an

19/ II 11

Wie ich heute aus dem Bett steigen wollte bin ich einfach zusammengeklappt. Es hat das einen sehr einfachen Grund, ich bin vollkommen überarbeitet. Nicht durch das Bureau aber durch meine sonstige Arbeit. Das Bureau hat nur dadurch einen unschuldigen Anteil daran, als ich, wenn ich nicht hinmüßte, ruhig für meine Arbeit leben könnte und nicht diese 6 Stunden dort täglich verbringen müßte, die mich besonders Freitag und Samstag, weil ich voll meiner Sachen war gequält haben daß Sie es sich nicht ausdenken können. Schließlich das weiß ich ja ist das nur Geschwätz, schuldig bin ich und das Bureau hat gegen mich die klarsten und berechtigsten Forderungen. Nur ist es eben für mich ein schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt. Ich schreibe das bei gutem Morgenlicht und würde es sicher nicht schreiben, wenn es nicht so wahr wäre und wenn ich sie nicht so liebte wie ein Sohn.

Im übrigen bin ich morgen schon wieder sicher beisammen und komme ins Bureau, wo ich als erstes hören werde, daß Sie mich aus Ihrer Abteilung weghabenwollen.

19. II 11

Die besondere Art meiner Inspiration in der ich Glücklichster und Unglücklichster jetzt um 2 Uhr nachts schlafen gehe [sie wird vielleicht, wenn ich nur den Gedanken daran ertrage, bleiben, denn sie ist höher als alle früheren] ist die, daß ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe z. B. Er schaute aus dem Fenster so ist er schon vollkommen.

"Wirst Du noch lange hier bleibende" fragte ich. Bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund.

Stört’s Dich? Wenn es Dich stört oder vielleicht vom Hinaufgehn abhält gehe ich gleich, sonst aber bliebe ich noch gern, weil ich müde bin.

28. III 11. Maler Pollak-Karlin, seine Frau zwei breite große Vorderzähne oben, die das große eher flache Gesicht zuspitzen, Frau Hofrath Bittner, Mutter des Komponisten, der das Alter ihr starkes Knochengerüst so hervortreibt, daß sie zumindest im Sitzen wie ein Mann aussieht: – Dr. Steiner wird so sehr von seinen abwesenden Schülern in Anspruch genommen – Beim Vortrag drängen sich die Toten so sehr an ihn. Wißbegierde? Haben sie es aber eigentlich nötig Offenbar doch. – Schläft 2 Stunden. Seitdem man ihm einmal das Elektrische Licht eingestellt hat, hat er immer eine Kerze bei sich. – Er stand Christus sehr nahe. – Er führte in München sein Teaterstück auf. ("Da kannst Du es ein Jahr lang studieren und verstehst es nicht") die Kleider hat er gezeichnet, die Musik geschrieben. – Einen Chemiker hat er belehrt. – Löwy Simon Seidenhändler in Paris Quai Moncey hat von ihm die besten geschäftlichen Ratschläge bekommen. Er hat seine Werke ins Französische übersetzt. Die Hofrätin hatte daher in ihrem Notizbuch stehn "Wie erlangt man die Erkenntnis höherer Welten? bei S. Löwy in Paris." – In der Wiener Loge ist ein Theosoph 65 Jahre alt, riesig stark, früher ein großer Trinker mit dickem Kopf, der immerfort glaubt und immerfort Zweifel hat. Es soll sehr lustig gewesen sein, wie er einmal bei einem Kongreß in Budapest bei einem Nachtmahl auf dem Blocksberg an einem Mondscheinabend, als unerwartet Dr. Steiner in die Gesellschaft kam, vor Schrecken mit seinem Krügel hinter einem Bierfaß sich versteckte (trotzdem Dr. Steiner darüber nicht böse gewesen wäre) – Er ist vielleicht nicht der größte gegenwärtige Geistesforscher, aber er allein hat die Aufgabe bekommen die Theosophie mit der Wissenschaft zu vereinigen. Daher weiß er auch alles. –

In sein Heimatsdorf kam einmal ein Botaniker, ein großer okkulter Meister. Der erleuchtete ihn. – Daß ich Dr. Steiner aufsuchen werde, wurde mir von der Dame als beginnende Rückerinnerung ausgelegt. – Der Arzt der Dame hat, als sich bei ihr die Anfänge einer Influenza zeigten, Dr. Steiner um ein Mittel gefragt, dieses der Dame verschrieben und sie damit gleich gesund gemacht – Eine Französin verabschiedete sich von ihm mit "Au revoir". Er schüttelte hinter ihr die Hand. Nach 2 Monaten starb sie. Noch ein ähnlicher Münchner Fall. – Ein Münchner Arzt heilt mit Farben, die Dr. Steiner bestimmt. Er schickt auch Kranke in die Pinakothek mit der Vorschrift vor einem bestimmten Bild eine halbe Stunde oder länger sich zu koncentrieren. – Atlantische Weltuntergang, lemurische Untergang und jetzt der durch Egoismus. – Wir leben in einer entscheidenden Zeit. Der Versuch des Dr. Steiner wird gelingen, wenn nur die arrhimanischen Kräfte nicht überhand nehmen. – Er ißt 2 Liter Mandelmilch und Früchte, die in der Höhe wachsen. – Er verkehrt mit seinen abwesenden Schülern vermittelst Denkformen, die er zu ihnen ausschickt, ohne sich nach der Erzeugung weiter mit ihnen zu beschäftigen. Sie nützen sich aber bald ab und er muß sie wieder herstellen – Frau Fanta: Ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Dr. St. Essen Sie keine Eier.

Mein Besuch bei Dr. Steiner.

Eine Frau wartet schon (oben im 2. Stock des Viktoriahotel in der Jungmannsstraße) bittet mich aber dringend vor ihr hineinzugehn. Wir warten. Die Sekretärin kommt und vertröstet uns. In einem Korridordurchblick sehe ich ihn. Gleich darauf kommt er mit halb ausgebreiteten Armen auf uns zu. Die Frau erklärt, ich sei zuerst dagewesen. Ich geh nun hinter ihm wie er mich in sein Zimmer führt. Sein an Vortragabenden wie gewichst schwarzer Kaiserrock, (nicht gewichst, sondern nur durch sein reines Schwarz glänzend) ist jetzt bei Tageslicht (3" nachmittag) besonders auf Rücken und Achseln staubig und sogar fleckig. In seinem Zimmer suche ich meine Demut, die ich nicht fühlen kann, durch Aufsuchen eines lächerlichen Platzes für meinen Hut zu zeigen; ich lege ihn auf ein kleines Holzgestell zum Stiefelschnüren. Tisch in der Mitte, ich sitze mit dem Blick zum Fenster, er an der linken Seite des Tisches. Auf dem Tisch etwas Papiere mit paar Zeichnungen, die an jene der Vorträge über okkulte Physiologie erinnern. Ein Heftchen Annalen für Naturphilosophie bedeckt einen kleinen Haufen Bücher, die auch sonst herumzuliegen scheinen. Nur kann man nicht herumschauen, da er einen mit seinem Blick immer zu halten versucht. Tut er es aber einmal nicht, so muß man auf die Wiederkehr des Blickes aufpassen. Er beginnt mit einigen losen Sätzen: Sie sind doch der Dr. Kafka Haben Sie sich schon länger mit Teosophie beschäftigt? Ich aber dringe mit meiner vorbereiteten Ansprache vor: Ich fühle wie ein großer Teil meines Wesens zur Teosophie hinstrebt, gleichzeitig aber habe ich vor ihr die höchste Angst. Ich befürchte nämlich von ihr eine neue Verwirrung, die für mich sehr arg wäre, da eben schon mein gegenwärtiges Unglück nur aus Verwirrung besteht. Diese Verwirrung liegt in Folgendem: Mein Glück, meine Fähigkeiten und jede Möglichkeit irgendwie zu nützen liegen seit jeher im Litterarischen. Und hier habe ich allerdings Zustände erlebt (nicht viele) die meiner Meinung nach den von Ihnen Herr Doktor beschriebenen hellseherischen Zuständen sehr nahestehen, in welchen ich ganz und gar in jedem Einfall wohnte, aber jeden Einfall auch erfüllte und in welchen ich mich nicht nur an meinen Grenzen fühlte, sondern an den Grenzen des Menschlichen überhaupt. Nur die Ruhe der Begeisterung, wie sie dem Hellseher wahrscheinlich eigen ist, fehlte doch jenen Zuständen, wenn auch nicht ganz. Ich schließe dies daraus, daß ich das Beste meiner Arbeiten nicht in jenen Zuständen geschrieben habe. – Diesem Literarischen kann ich mich nun nicht vollständig hingeben, wie es sein müßte, undzwar aus verschiedenen Gründen nicht. Abgesehen von meinen Familienverhältnissen könnte ich von der Litteratur schon infolge des langsamen Entstehens meiner Arbeiten und ihres besonderen Charakters nicht leben; überdies hindert mich auch meine Gesundheit und mein Charakter daran, mich einem im günstigsten Falle ungewissen Leben hinzugeben. Ich bin daher Beamter in einer socialen Versicherungsanstalt geworden. Nun können diese zwei Berufe einander niemals ertragen und ein gemeinsames Glück zulassen. Das kleinste Glück in einem wird ein großes Unglück im zweiten. Habe ich an einem Abend gutes geschrieben, brenne ich am nächsten Tag im Bureau und kann nichts fertig bringen. Dieses Hinundher wird immer ärger.

Im Bureau genüge ich äußerlich meinen Pflichten, meinen innern Pflichten aber nicht und jede nichterfüllte innere Pflicht wird zu einem Unglück, das sich aus mir nicht mehr rührt. Und zu diesen zwei nie auszugleichenden Bestrebungen soll ich jetzt die Teosophie als dritte führen? Wird sie nicht nach beiden Seiten hin stören und selbst von beiden gestört werden? Werde ich, ein gegenwärtig schon so unglücklicher Mensch die 3 zu einem Ende führen können? Ich bin gekommen Herr Doktor Sie das zu fragen, denn ich ahne, daß, wenn Sie mich dessen für fähig halten, ich es auch wirklich auf mich nehmen kann.

Er hörte äußerst aufmerksam zu, ohne mich offenbar im geringsten zu beobachten, ganz meinen Worten hingegeben. Er nickte von Zeit zu Zeit, was er scheinbar für ein Hilfsmittel einer starken Koncentration hält. Am Anfang störte ihn ein stiller Schnupfen, es rann ihm aus der Nase, immerfort arbeitete er mit dem Taschentuch bis tief in die Nase hinein, einen Finger an jedem Nasenloch

Da sich der Leser gewöhnt hat, in den westeuropäischen zeitgenössischen Judenerzählungen gleich unter oder über der Erzählung auch die Lösung der Judenfrage zu suchen und zu finden, in den "Jüdinnen" aber eine solche Lösung nicht gezeigt und nicht einmal vermuthet wird, so ist es möglich daß der Leser kurz entschlossen darin einen Mangel der "Jüdinnen" erkennt, und nur ungern zusieht wenn Juden im Tageslicht herumgehn sollen ohne politische Aufmunterung aus Vergangenheit oder Zukunft. Er muß sich hiebei sagen, daß, besonders seit dem Aufkommen des Zionismus, die Lösungsmöglichkeiten um das jüdische Problem herum, so klar angeordnet liegen, daß es schließlich nur einer Körperwendung des Schriftstellers bedarf um eine bestimmte, dem vorliegenden Teil des Problems gemäße Lösung zu finden.

Ich ahnte bei seinem Anblick die Anstrengungen die er um meinetwillen auf sich genommen hatte und die ihm jetzt – vielleicht nur weil er müde war – diese Sicherheit gaben. Hätte nicht noch eine kleine Anspannung genügt und der Betrug wäre gelungen, gelang vielleicht noch jetzt. Wehrte ich mich denn? Ich stand zwar hartnäckig hier vor dem Haus, aber ebenso hartnäckig zögerte ich hinaufzugehn. Wartete ich bis die Gäste kommen würden, mit Gesang mich zu holen?

15 August 1911 Die Zeit, die jetzt verlaufen ist und in der ich kein Wort geschrieben habe, ist für mich deshalb wichtig gewesen, weil ich auf den Schwimmschulen in Prag, Königssaal und Czernoschitz aufgehört habe, für meinen Körper mich zu schämen. Wie spät hole ich jetzt mit 28 Jahren meine Erziehung nach, einen verspäteten Start würde man das bei einem Wettlaufen nennen. Und der Schaden eines solchen Unglücks besteht nicht vielleicht darin, daß man nicht siegt; dieses letzte ist ja nur der noch sichtbare, klare, gesunde Kern des weiterhin verschwimmenden grenzenlos werdenden Unglücks, das einen, der man doch den Kreis umlaufen sollte, in das Innere des Kreises treibt. Übrigens habe ich auch vieles andere in dieser zum kleinen Teil auch glücklichen Zeit an mir bemerkt und werde es in den nächsten Tagen aufzuschreiben versuchen.

20 VIII 11

Ich habe den unglücklichen Glauben daß ich nicht zur geringsten guten Arbeit Zeit habe, denn ich habe wirklich nicht Zeit für eine Geschichte mich in alle Weltrichtungen auszubreiten, wie ich es müßte. Dann aber glaube ich wieder, daß meine Reise besser ausfallen wird, daß ich besser auffassen werde, wenn ich durch ein wenig Schreiben gelockert bin und so versuche ich es wieder.

Ich ahnte bei seinem Anblick die Anstrengungen, die er um meinetwillen auf sich genommen hatte und die ihm jetzt, vielleicht nur weil er müde war, diese Sicherheit gaben. Hätte nicht noch eine kleine Anspannung genügt und der Betrug wäre gelungen, gelang vielleicht noch jetzt. Wehrte ich mich denn? Ich stand zwar hartnäckig hier vor dem Haus, aber ebenso hartnäckig zögerte ich hinaufzugehn. Wartete ich bis die Gäste kämen, mit Gesang mich zu holen?

Ich habe über Dickens gelesen. Ist es so schwer und kann es ein Außenstehender begreifen, daß man eine Geschichte von ihrem Anfang in sich erlebt vom fernen Punkt bis zu der heranfahrenden Lokomotive aus Stahl, Kohle und Dampf, sie aber auch jetzt noch nicht verläßt sondern von ihr gejagt sein will und Zeit dazu hat, also von ihr gejagt wird und aus eigenem Schwung vor ihr läuft wohin sie nur stößt und wohin man sie lockt.

Ich kann es nicht verstehn und nicht einmal glauben. Ich lebe nur hie und da in einem kleinen Wort, in dessen Umlaut (oben "stößt") ich z. B. auf einen Augenblick meinen unnützen Kopf verliere. Erster und letzter Buchstabe sind Anfang und Ende meines fischartigen Gefühls.

24 August 1911

Mit Bekannten an einem Kaffeehaustisch im Freien sitzen und eine Frau am Nebentisch ansehn, die gerade gekommen ist, schwer unter großen Brüsten atmet und mit erhitztem, bräunlich glänzendem Gesicht sich setzt. Sie neigt den Kopf zurück, ein starker Bartanflug wird sichtbar, sie dreht die Augen nach oben, fast so, wie sie vielleicht manchmal ihren Mann ansieht, der jetzt neben ihr eine illustrierte Zeitung liest. Wenn man ihr doch die Überzeugung beibringen könnte, daß man neben seiner Frau im Kaffeehaus höchstens eine Zeitung aber niemals eine Zeitschrift lesen darf. Ein Augenblick bringt ihr ihre Körperfülle zum Bewußten und sie rückt ein wenig vom Tisch weg.

26. Aug. (1911) Morgen soll ich nach Italien fahren. Jetzt Abend konnte der Vater vor Aufregung nicht einschlafen, da er ganz von der Sorge um das Geschäft und von seiner dadurch aufgeweckten Krankheit ergriffen war. Auf das Herz ein nasses Tuch, Brechreiz, Luftmangel, seufzendes Hin- und Hergehn. Die Mutter in ihrer Angst findet neuen Trost. Immer sei er doch so energisch gewesen, über alles sei er hinweggekommen und jetzt – Ich sage daß der Jammer mit dem Geschäft doch nur ein 1/4 Jahr noch dauern könne, dann müsse doch alles gut werden. Er geht seufzend und den Kopf schüttelnd auf und ab. Es ist klar, daß von ihm aus gesehn, seine Sorgen durch uns nicht abgenommen und nicht einmal erleichtert werden, aber selbst von uns aus gesehn nicht, selbst in unserm besten Willen steckt etwas noch so traurige Überzeugung, daß er für seine Familie sorgen muß. – Später dachte ich, er liegt bei der Mutter, soll er sich doch an sie pressen, nahes verwandtes Fleisch muß beruhigen. – Durch sein häufiges Gähnen oder sein übrigens nicht unappetitliches In-die-Nase-greifen erzeugt der Vater eine kleine kaum zum Bewußtsein kommende Beruhigung über seinen Zustand, trotzdem er dies wenn er gesund ist im Allgemeinen nicht macht. Die Ottla hat es mir bestätigt. – Die arme Mutter will morgen zum Hausherrn bitten gehn.

26. Sept. 1911 Der Zeichner Kubin empfiehlt als Abführmittel Regulin, eine zerstampfte Alge die im Darm aufquillt ihn zum Zittern bringt, also mechanisch wirkt zum Unterschied von der ungesunden chemischen Wirkung anderer Abführmittel, die bloß den Koth durchreißen ihn also an den Darmwänden hängen lassen. – Er ist mit Hamsun bei Langen zusammengekommen. Er feixt grundlos. Während des Gespräches, ohne daß er es unterbrochen hätte, hob er seinen Fuß aufs Knie, nahm vom Tisch eine große Papierschere und schnitt rund herum die Fransen seiner Hose ab. Schäbig angezogen mit irgend einem wertvolleren Detail z. B. Krawatte. – Geschichten von einer Künstlerpension in München, wo Maler und Veterinärärzte wohnten (die Schule der letzternwar in der Nähe) und wo es so verlottert zugieng, daß die Fenster des gegenüberliegenden Hauses, von wo man eine gute Aussicht hatte vermietet wurden. Um diese Zuseher zu befriedigen, sprang manchmal ein Pensionär auf das Fensterbrett und löffelte in Affenstellung seinen Suppentopf aus. – Ein Erzeuger falscher Altertümer, der die Verwitterung durch Schrotschüsse erzeugte und der von einem Tisch sagte: Jetzt müssen wir noch dreimal auf ihm Kaffee trinken, dann kann er ans Innsbrucker Museum weggeschickt werden. – Kubin selbst: sehr stark, aber etwas einförmig bewegtes Gesicht, mit der gleichen Muskelanspannung beschreibt er die verschiedensten Sachen. Sieht verschieden alt, groß und stark aus, je nachdem er sitzt, aufsteht, bloßen Anzug oder Überzieher hat

Do 27 IX 11 Gestern auf dem Wenzelsplatz 2 Mädchen begegnet, zu lange den Blick auf einer gehalten, während gerade die andere, wie sich zu spät zeigte, einen häuslich weichen braunen faltigen weiten vorn ein wenig offenen Mantel trug, zarten Hals und zarte Nase hatte. Das Haar war in einer schon vergessenen Weise schön. – Alter Mann mit locker hängenden Hosen auf dem Belvedere. Er pfeift; wenn ich ihn anschaue, hört er auf; schaue ich weg, fängt er wieder an; endlich pfeift er auch wenn ich ihn anschaue. – Der schöne große Knopf schön angebracht unten auf dem Ärmel eines Mädchenkleides. Das Kleid auch schön getragen über amerikanischen Stiefeln schwebend. Wie selten gelingt mir etwas Schönes und diesem unbeachteten Knopf und seiner unwissenden Schneiderin gelingts. – Die Erzählerin auf dem Weg zum Belvedere, deren lebhafte Augen unabhängig von den augenblicklichen Worten zufrieden ihre Geschichte bis an ihr Ende überblickten – Mächtige halbe Halswendung eines starken Mädchens,

29. IX 11 Goethes Tagebücher: Ein Mensch, der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in einer falschen Position. Wenn er z. B. in Goethes Tagebüchern liest "11. I 1797 den ganzen Tag zuhause mit verschiedenen Anordnungen beschäftigt" so scheint es ihm, er selbst hätte noch niemals an einem Tag so wenig gemacht. – Reisebeobachtungen Goethes anders als die heutigen, weil sie aus einer Postkutsche gemacht mit den langsamen Veränderungen des Geländes sich einfacher entwickeln und viel leichter selbst von demjenigen verfolgt werden können, der jene Gegenden nicht kennt. Ein ruhiges förmlich landschaftliches Denken tritt ein. Da die Gegend unbeschädigt in ihrem eingeborenen Charakter dem Insassen des Wagens sich darbietet und auch die Landstraßen das Land viel natürlicher schneiden als die Eisenbahnstrecken, zu denen sie vielleicht im gleichen Verhältnisse stehn wie Flüsse zu Kanälen, so braucht es auch beim Beschauer keine Gewalttätigkeiten und er kann ohne große Mühe systematisch sehn. Augenblicksbeobachtungen gibt es daher wenige, meist nur in Innenräumen wo bestimmte Menschen gleich grenzenlos einem vor den Augen aufbrausen z. B. österreichische Officiere in Heidelberg, dagegen ist die Stelle von den Männern in Wiesenheim der Landschaft näher " sie tragen blaue Röcke und mit gewirkten Blumen verzierte weiße Westen" (nach dem Gedächtnis citiert). Viel über den Rheinfall bei Schaffhausen niedergeschrieben mitten drin in größeren Buchstaben "Erregte Ideen"

Cabaret Lucerna. Lucie König stellt Photographien mit alten Frisuren aus. Abgeschabtes Gesicht. Manchmal gelingt ihr etwas mit der von unten her gehobenen Nase, mit dem emporgehaltenem Arm und einer Wendung aller Finger. Waschlappiges Gesicht. – Longhen (Maler Pittermann) mimische Scherze. Eine Leistung, die offenbar ohne Lust ist, und doch so lustlos nicht gedacht werden kann, da sie doch dann nicht jeden Abend durchgeführt werden könnte, besonders da sie selbst bei ihrer Erfindung so lustlos war, daß sich kein genügendes Schema ergeben hat, welches das genug häufige Eintreten des ganzen Menschen ersparen würde. Hübscher Clownsprung über einen Sessel weg ins Leere der Seitenkoulisse. Das Ganze erinnert an eine Vorführung in einer Privatgesellschaft wo man einer mühseligen unbedeutenden Leistung aus dem geselligen Bedürfnis heraus besonders applaudiert, um mit Rücksicht auf das Minus der Leistung durch das Plus des Beifalls etwas glattes Abgerundetes zu erhalten. – Sänger Vasata. So schlecht, daß man sich in seinem Anblick verliert. Aber weil er ein starker Mensch ist, hält er doch mit einer sicher nur mir zum Bewußtsein kommenden tierischen Kraft die Aufmerksamkeit des Publikums halbwegs gesammelt. – Grünbaum wirkt mit der angeblich nur scheinbaren Trostlosigkeit seiner Existenz. – Odys Tänzerin. Steife Hüften. Richtige Fleischlosigkeit. Rote Knie passen mir zum Tanz "Frühlingsstimmung".

30. IX 1911

Das Mädchen im Nebenzimmer vorgestern (Helli Haas). Ich lag auf dem Kanapee und hörte auf dem Rande des Halbschlafs ihre Stimme. Sie kam mir besonders stark angezogen vor, nicht nur in ihre Kleider, sondern auch in das ganze Nebenzimmer, nur ihre geformte, nackte runde, starke dunkle Schulter, die ich im Bad gesehen hatte, kam gegen ihre Kleider auf. Einen Augenblick schien sie mir zu dampfen und das ganze Nebenzimmer mit ihren Dämpfen zu füllen. Dann stand sie im Mieder von aschgrauer Farbe, das unten so weit vom Körper abstand, daß man sich darauf setzen und so gewissermaßen reiten konnte.

Noch Kubin: Die Gewohnheit die letzten Worte des andern auf jeden Fall in billigendem Tone nachzusprechen wenn sich auch durch die daran gesponnene eigene Rede herausstellt, daß man mit dem andern durchaus nicht übereinstimmt. Ärgerlich. – Im Anhören seiner vielen Geschichten kann man vergessen, was er wert ist. Plötzlich wird man daran erinnert und erschrickt. Es war davon die Rede, daß ein Lokal, in das wir gehn wollten, gefährlich sei; er sagte, da gehe er nicht hin; ich fragte ihn, ob er ängstlich sei darauf antwortete er und war zudem noch in mich eingehängt: Natürlich, ich bin jung und habe noch viel vor. – Den ganzen Abend sprach er oft und meiner Meinung nach ganz ernsthaft von meiner und seiner Verstopfung. Gegen Mitternacht sah er als ich meine Hand vom Tischrand hängen ließ, ein Stück meines Armes und rief: Aber Sie sind ja wirklich krank. Behandelte mich von da ab noch viel nachgiebiger und wehrte auch später den andern, die mir zureden wollten, noch mit ins B. zu gehn. Als wir uns schon verabschiedet hatten, rief er mir noch aus der Ferne zu "Regulin! "

Tucholski und Safranski. Das gehauchte Berlinerisch, in dem die Stimme Ruhepausen braucht, die von "nich" gebildet werden. Der erste ein ganz einheitlicher Mensch von 21 Jahren. Vom gemäßigten und starken Schwingen des Spazierstocks, das die Schulter jugendlich hebt, angefangen bis zum überlegten Vergnügen und Mißachten seiner eigenen schriftstellerischen Arbeiten. Will Verteidiger werden, sieht nur wenige Hindernisse – gleichzeitig mit der Möglichkeit ihrer Beseitigung: seine helle Stimme die nach dem männlichen Klang der ersten durchredeten halben Stunde angeblich mädchenhaft wird – Zweifel an der eigenen Fähigkeit zur Pose, die er sich aber von größerer Welterfahrung erhofft – endlich Angst vor einer Verwandlung ins Weltschmerzlerische, wie er es an ältern Berliner Juden seiner Richtung bemerkt hat, allerdings spürt er vorläufig gar nichts davon. Er wird bald heiraten.

Safranski, Schüler Bernhards, macht während des Zeichnens und Beobachtens Grimassen, die mit dem Gezeichneten in Verbindung stehn. Erinnert mich daran, daß ich für meinen Teil eine starke Verwandlungsfähigkeit habe, die niemand bemerkt. Wie oft mußte ich Max nachmachen. Gestern abend auf dem Nachhauseweg hätte ich mich als Zuschauer mit Tucholski verwechseln können. Das fremde Wesen muß dann in mir so deutlich und unsichtbar sein, wie das Versteckte in einem Vexierbild, in dem man auch niemals etwas finden würde, wenn man nicht wüßte daß es drin steckt. Bei diesen Verwandlungen möchte ich besonders gern an ein Sichtrüben der eigenen Augen glauben.

1. Oktober Mo (Sonntag 1911) Altneusynagoge gestern. Kolnidre. Gedämpftes Börsengemurmel. Im Vorraum Büchse mit der Aufschrift: "Milde Gaben im Stillen, besänftigen den Unwillen. " Kirchenmäßiges Innere. Drei fromme offenbar östliche Juden. In Socken. Über das Gebetbuch gebeugt, den Gebetmantel über den Kopf gezogen, möglichst klein geworden. Zwei weinen, nur vom Feiertag gerührt? Einer hat vielleicht nur wehe Augen, an die er das noch gefaltete Sacktuch flüchtig legt, um das Gesicht gleich wieder nahe an den Text zu halten. Nicht eigentlich oder hauptsächlich wird das Wort gesungen, aber hinter dem Wort her werden Arabesken gezogen aus dem haardünn weitergesponnenem Wort. Der kleine Junge, der ohne die geringste Vorstellung des Ganzen und ohne Orientierungsmöglichkeit, den Lärm in den Ohren, sich zwischen den gedrängten Leuten hinschiebt und geschoben wird. Der scheinbare Commis, der sich beim Beten rasch schüttelt, was nur als Versuch einer möglichst starken, wenn auch vielleicht unverständigen Betonung jedes Wortes zu verstehen ist, wobei die Stimme geschont wird, die überdies in dem Lärm eine klare große Betonung nicht zustande brächte. Die Familie des Bordellbesitzers. In der Pinkassynagoge war ich unvergleichlich stärker vom Judentum hergenommen.

Im B. Suha vorvorgestern. Die eine Jüdin mit schmalem Gesicht, besser das in ein schmales Kinn verläuft, aber von einer ausgedehnt welligen Frisur ins Breite geschüttelt wird. Die drei kleinen Türen, die aus dem Innern des Gebäudes in den Salon führen. Die Gäste wie in einer Wachstube auf der Bühne, Getränke auf dem Tisch, werden ja kaum angerührt. Die Flachgesichtige im eckigen Kleid, das erst tief unten in einem Saum sich zu bewegen anfängt. Einige hier und früher angezogen wie die Marionetten für Kinderteater, wie man sie auf dem Christmarkt verkauft d. h. mit Rüschen und Gold beklebt und lose benäht, so daß man sie mit einem Zug abtrennen kann und daß sie einem dann in den Fingern zerfallen. Die Wirtin mit dem mattblonden über zweifellos ekelhaften Unterlagen straff gezogenem Haar, mit der scharf niedergehenden Nase, deren Richtung in irgendeiner geometrischen Beziehung zu den hängenden Brüsten und dem steif gehaltenen Bauch steht, klagt über Kopfschmerzen, die dadurch verursacht sind, daß heute Samstag ein so großer Rummel und nichts daran ist.

zu Kubin: Die Geschichte von Hamsun ist verdächtig. Solche Geschichten könnte man aus seinen Werken zu Tausenden als erlebt erzählen.

zu Goethe: "Erregte Ideen" sind bloß die Ideen, die der Rheinfall erregt. Man sieht das aus einem Brief an Schiller. – Die vereinzelte Augenblicksbeobachtung "Kastagnettenrythmus der Kinder in Holzschuhen" hat eine solche Wirkung gemacht, ist so allgemein angenommen, daß es undenkbar ist, daß jemand, wenn er auch diese Bemerkung niemals gelesen hätte, diese Beobachtung als eigene Originalidee fühlen könnte.

2 Oktober (1911) Schlaflose Nacht. Schon die dritte in einer Reihe. Ich schlafe gut ein, nach einer Stunde aber wache ich auf, als hätte ich den Kopf in ein falsches Loch gelegt. Ich bin vollständig wach, habe das Gefühl gar nicht oder nur unter einer dünnen Haut geschlafen zu haben, habe die Arbeit des Einschlafens von neuem vor mir und fühle mich vom Schlaf zurückgewiesen. Und von jetzt an bleibt es die ganze Nacht bis gegen 5 so, daß ich zwar schlafe daß aber starke Träume mich gleichzeitig wach halten. Neben mir schlafe ich förmlich, während ich selbst mit Träumen mich herumschlagen muß. Gegen 5 ist die letzte Spur von Schlaf verbraucht, ich träume nur, was anstrengender ist als Wachen. Kurz ich verbringe die ganze Nacht in dem Zustand, in dem sich ein gesunder Mensch ein Weilchen lang vor dem eigentlichen Einschlafen befindet. Wenn ich erwache sind alle Träume um mich versammelt aber ich hüte mich, sie zu durchdenken. Gegen Früh seufze ich in den Polster, weil für diese Nacht alle Hoffnung vorüber ist. Ich denke an jene Nächte, an deren Ende ich aus dem tiefen Schlaf gehoben wurde und erwachte, als wäre ich in einer Nuß eingesperrt gewesen. Eine schreckliche Erscheinung war heute in der Nacht ein blindes Kind scheinbar die Tochter meiner Leitmeritzer Tante die übrigens keine Tochter hat sondern nur Söhne, von denen einer einmal den Fuß gebrochen hatte. Dagegen waren zwischen diesem Kind und der Tochter Dr. Marschners Beziehungen, die, wie ich letzthin gesehen habe, auf dem Wege ist, aus einem hübschen Kind ein dickes steif angezogenes kleines Mädchen zu werden. Dieses blinde oder schwachsichtige Kind hatte beide Augen von einer Brille bedeckt, das linke unter dem ziemlich weit entfernten Augenglas war milchgrau und rund vortretend, das andere trat zurück und war von einem anliegenden Augenglas verdeckt. Damit dieses Augenglas optisch richtig eingesetzt sei, war es nötig statt des gewöhnlichen über das Ohr zurückgehenden Halters, einen Hebel anzuwenden, dessen Kopf nicht anders befestigt werden konnte als am Wangenknochen, so daß von diesem Augenglas ein Stäbchen zur Wange hinuntergieng, dort im durchlöcherten Fleisch verschwand und am Knochen endete, während ein neues Dratstäbchen heraustrat und über das Ohr zurückgieng. – Ich glaube, diese Schlaflosigkeit kommt nur daher, daß ich schreibe. Denn so wenig und so schlecht ich schreibe, ich werde doch durch diese kleinen Erschütterungen empfindlich, spüre besonders gegen Abend und noch mehr am Morgen, das Wehen, die nahe Möglichkeit großer mich aufreißender Zustände, die mich zu allem fähig machen könnten und bekomme dann in dem allgemeinen Lärm der in mir ist und dem zu befehlen ich nicht Zeit habe, keine Ruhe. Schließlich ist dieser Lärm nur eine bedrückte, zurückgehaltene Harmonie, die freigelassen mich ganz erfüllen, ja sogar noch in die Weite spannen und dann noch erfüllen würde. Jetzt aber verursacht mir dieser Zustand neben schwachen Hoffnungen nur Schaden, da mein Wesen nicht genug Fassungskraft hat, die gegenwärtige Mischung zu ertragen, bei Tag hilft mir die sichtbare Welt, in der Nacht zerschneidet es mich ungehindert. Immer denke ich dabei an Paris, in dem zur Zeit der Belagerung und später bis zur Commune die dem Pariser bis dahin fremde Bevölkerung der nördlichen und östlichen Vorstädte in der Zeit von Monaten förmlich von Stunde zu Stunde durch die verbindenden Gassen stockend wie Uhrzeiger in das Innere von Paris rückte.

Mein Trost ist – und mit ihm lege ich mich jetzt nieder – daß ich solange nicht geschrieben habe, daß sich daher dieses Schreiben in meine gegenwärtigen Verhältnisse noch nicht einordnen konnte, daß dies jedoch bei einiger Männlichkeit wenigstens provisorisch gelingen muß.

Ich war heute so schwach daß ich sogar meinem Chef die Geschichte von dem Kind erzählte. – Jetzt erinnerte ich mich, daß die Brille im Traum von meiner Mutter stammt, die am Abend neben mir sitzt und unter ihrem Zwicker während des Kartenspiels nicht sehr angenehm zu mir herüberschaut. Ihr Zwicker hat sogar, was ich früher bemerkt zu haben mich nicht erinnere das rechte Glas näher dem Auge als das linke.

3 Oktober (1911) Die gleiche Nacht, nur noch schwerer eingeschlafen. Beim Einschlafen ein vertikal gehender Schmerz im Kopf über der Nasenwurzel, wie von einer zu scharf gepreßten Stirnfalte. Um möglichst schwer zu sein, was ich für das Einschlafen für gut halte, hatte ich die Arme gekreuzt und die Hände auf die Schultern gelegt, so daß ich dalag wie ein bepackter Soldat. Wieder war es die Kraft meiner Träume die schon ins Wachsein vor dem Einschlafen strahlen, die mich nicht schlafen ließ. Das Bewußtsein meiner dichterischen Fähigkeiten ist am Abend und am Morgen unüberblickbar. Ich fühle mich gelockert bis auf den Boden meines Wesens und kann aus mir heben was ich nur will. Dieses Hervorlocken solcher Kräfte, die man dann nicht arbeiten läßt, erinnern mich an mein Verhältnis zur B. Auch hier sind Ergießungen, die nicht entlassen werden, sondern im Rückstoß sich selbst vernichten müssen, nur daß es sich hier – das ist der Unterschied – um geheimnisvollere Kräfte und um mein Letztes handelt.

Auf dem Josefsplatz fuhr ein großes Reiseautomobil mit einer fest an einander sitzenden Familie an mir vorüber. Hinter dem Automobil gieng mir mit dem Benzingeruch ein Luftzug von Paris über das Gesicht.

Beim Diktieren einer größern Anzeige an eine Bezirkshauptmannschaft im Bureau. Im Schluß, der sich aufschwingen sollte, blieb ich stecken und konnte nichts als das Maschinenfräulein Kaiser ansehn, die nach ihrer Gewohnheit besonders lebhaft wurde, ihren Sessel rückte hustete, auf dem Tisch herumtipte und so das ganze Zimmer auf mein Unglück aufmerksam machte. Der gesuchte Einfall bekommt jetzt auch den Wert, daß er sie ruhig machen wird, und läßt sich je wertvoller er wird desto schwerer finden. Endlich habe ich das Wort "brandmarken" und den dazu gehörigen Satz, halte alles aber noch im Mund mit einem Ekel und Schamgefühl wie wenn es rohes Fleisch, aus mir geschnittenes Fleisch wäre (solche Mühe hat es mich gekostet). Endlich sage ich es, behalte aber den großen Schrecken, daß zu einer dichterischen Arbeit alles in mir bereit ist und eine solche Arbeit eine himmlische Auflösung und ein wirkliches Lebendigwerden für mich wäre, während ich hier im Bureau um eines so elenden Aktenstückes willen einen solchen Glückes fähigen Körper um ein Stück seines Fleisches berauben muß

4. (Oktober 1911) Ich bin unruhig und giftig. Gestern vor dem Einschlafen hatte ich links oben im Kopf ein flackerndes kühles Flämmchen. Über meinem linken Auge hat sich eine Spannung schon eingebürgert. Denke ich daran so scheint es mir, daß ich es im Bureau auch dann nicht aushalten könnte, wenn man mir sagte, daß ich in einem Monat frei sein werde. Und doch tue ich im Bureau meist meine Pflicht, bin recht ruhig, wenn ich der Zufriedenheit meines Chefs sicher sein kann und empfinde meinen Zustand nicht als einen schrecklichen. Gestern abend habe ich mich übrigens mit Absicht dumpf gemacht, war spazieren, habe Dickens gelesen, war dann etwas gesünder und hatte die Kraft zu der Traurigkeit verloren, die ich als berechtigt ansah, wenn sie mir auch etwas in die Ferne gerückt schien, wovon ich mir einen bessern Schlaf erhoffte. Er war auch ein wenig tiefer, aber nicht genug und oft unterbrochen. Ich sagte mir zum Trost, daß ich zwar die große Bewegung, die in mir gewesen war, wieder unterdrückt hatte, daß ich mich aber nicht aus der Hand geben wollte, wie früher immer nach solchen Zeiten, sondern daß ich mir auch der Nachwehen jener Bewegung genau bewußt bleiben wolle, was ich früher nie getan hatte. Vielleicht könnte ich so eine verborgene Standhaftigkeit in mir finden.

Gegen Abend im Dunkel in meinem Zimmer auf dem Kanapee. Warum braucht man längere Zeit um eine Farbe zu erkennen wird dann aber nach der entscheidenden Biegung des Verständnisses rasch immer überzeugter von der Farbe. Wirkt auf die Glastür von außenher das Licht des Vorzimmers und jenes der Küche gleichzeitig, so gießt sich grünliches oder besser um den sichern Eindruck nicht zu entwerten, grünes Licht die Scheiben fast ganz hinab. Wird das Licht im Vorzimmer abgedreht und bleibt nur das Küchenlicht, so wird die der Küche nähere Scheibe tiefblau, die andere weißlich blau so weißlich, daß sich die ganze Zeichnung auf dem Mattglas (stilisierte Mohnköpfe, Ranken, verschiedene Vierecke und Blätter) auflöst. – Die von dem elektrischen Licht auf der Straße und Brücke unten auf die Wände und die Decke geworfenen Lichter und Schatten sind ungeordnet zum Teil verdorben einander überdeckend und schwer zu überprüfen. Es wurde eben bei der Aufstellung der elektrischen Bogenlampen unten und bei der Einrichtung dieses Zimmers keine hausfraumäßige Rücksicht darauf genommen, wie mein Zimmer zu dieser Stunde vom Kanapee aus ohne eigene Zimmerbeleuchtung aussehn wird. – Der von der unten fahrenden Elektrischen an die Decke emporgeworfene Glanz fährt weißlich, schleierhaft und mechanisch stockend die eine Wand und Decke, in der Kante gebrochen, entlang. – Der Globus steht im ersten frischen vollen Widerschein der Straßenbeleuchtung auf dem oben grünlich rein überleuchteten Wäschekasten, hat einen Glanzpunkt auf seiner Rundung und ein Aussehn, als sei ihm der Schein doch zu stark, trotzdem das Licht an seiner Glätte vorüberfährt und ihn eher bräunlich, lederapfelartig zurückläßt. – Das Licht aus dem Vorzimmer bringt einen großflächigen Glanz an der Wand über dem Bett hervor, der in einer geschwungenen Linie vom Kopfende des Bettes aus begrenzt wird, das Bett im Anblick niederdrückt, die dunklen Bettpfosten verbreitert, die Zimmerdecke über dem Bette hebt

5. (Oktober 1911) Zum erstenmal seit einigen Tagen wieder Unruhe selbst vor diesem Schreiben. Wut über meine Schwester, die ins Zimmer kommt und sich mit einem Buch zum Tisch setzt; Abwarten der nächsten kleinen Gelegenheit zum Losgehn dieser Wut. Endlich nimmt sie eine Visitkarte vom Behälter und stochert mit ihr zwischen den Zähnen herum. Mit abfahrender Wut, von der mir nur ein scharfer Dampf im Kopf zurückbleibt, und beginnender Erleichterung und Zuversicht fange ich zu schreiben an.

Gestern abend Cafe Savoy. Jüdische Gesellschaft – Frau Klug "Herrenimitatorin". Im Kaftan kurzen schwarzen Hosen, weißen Strümpfen, einem aus der schwarzen Weste steigenden dünnwolligem weißen Hemd, das vorn am Hals von einem Zwirnknopf gehalten ist und dann in einen breiten, losen, langauslaufenden Kragen umschlägt. Auf dem Kopf, das Frauenhaar umfassend, aber auch sonst nötig und von ihrem Mann auch getragen, ein dunkles randloses Käppchen, darüber ein großer weicher schwarzer Hut mit hochaufgebogenem Rand. – Eigentlich weiß ich nicht, was für Personen das sind, die sie und ihr Mann darstellt. Wollte ich sie jemandem erklären, dem ich meine Unwissenheit nicht eingestehen will, würde ich sehn, daß ich sie für Gemeindediener halte, für Angestellte des Tempels, bekannte Faulenzer, mit denen sich die Gemeinde abgefunden hat, irgendwie aus religiösen Gründen bevorzugte Schnorrer, Leute, die infolge ihrer abgesonderten Stellung gerade ganz nahe am Mittelpunkt des Gemeindelebens sind, infolge ihres nutzlosen aufpasserischen Herumziehns viele Lieder kennen, die Verhältnisse aller Gemeindemitglieder genau durchschauen aber infolge ihrer Beziehungslosigkeit zum Berufsleben nichts mit diesen Kenntnissen anzufangen wissen, Leute, die in einer besonders reinen Form Juden sind, weil sie nur in der Religion aber ohne Mühe, Verständnis und Jammer in ihr leben. Sie scheinen sich aus jedem einen Narren zu machen, lachen gleich nach der Ermordung eines edlen Juden, verkaufen sich einem Abtrünnigen, tanzen die Hände vor Entzücken am Wangenhaar, als der entlarvte Mörder sich vergiftet und Gott anruft, und doch alles nur weil sie so federleicht sind, unter jedem Druck auf dem Boden liegen empfindlich sind, gleich mit trockenem Gesicht weinen (sie weinen sich in Grimassen aus), sobald der Druck aber vorüber ist, nicht das geringste Eigengewicht aufbringen sondern gleich in die Höhe springen müssen. Sie müßten daher einem ernsten Stück wie es der "Meschumed" von Lateiner ist, eigentlich viel Sorge machen, da sie immer in ganzer Größe und oft auf den Fußspitzen oder mit beiden Beinen in der Luft vorn auf der Bühne sind und die Aufregung des Stückes nicht lösen, sondern zerschneiden. Nun wickelt sich aber der Ernst des Stückes in so geschlossenen, selbst in der möglichen Improvisation abgewogenen, von einheitlichem Gefühl gespannten Worten ab, daß selbst wenn die Handlung nur im Hintergrund der Bühne vor sich geht, sie sich ihre Bedeutung immer wahrt. Eher werden hie und da die 2 im Kaftan unterdrückt, was ihrer Natur entspricht und man sieht trotz ihrer ausgebreiteten Arme und schnippenden Finger nur hinten den Mörder, der das Gift in sich, die Hand an seinem eigentlich zu weiten Kragen zur Türe wankt. – Die Melodien sind lang, der Körper vertraut sich ihnen gerne an. Infolge ihrer gerade verlaufenden Länge wird ihnen am besten durch das Wiegen der Hüften, durch ausgebreitete in ruhigem Atem gehobene und gesenkte Arme, durch Annäherung der Handflächen an die Schläfen und sorgfältige Vermeidung der Berührung entsprochen. Erinnert etwas an den Slapak – Bei manchen Liedern, der Aussprache "jüdische Kinderloch", manchem Anblick dieser Frau, die auf dem Podium, weil sie Jüdin ist uns Zuhörer weil wir Juden sind an sich zieht, ohne Verlangen oder Neugier nach Christen, gieng mir ein Zittern über die Wangen. Der Regierungsvertreter, der vielleicht mit Ausnahme eines Kellners und zweier links von der Bühne stehender Dienstmädchen einzige Christ im Saal ist ein kläglicher Mensch mit einem Gesichtstik behaftet der besonders in der linken Gesichtshälfte und auch in die rechte stark einreißend, das Gesicht mit der fast schonungsvollen Geschwindigkeit ich meine Flüchtigkeit des Sekundenzeigers aber auch seiner Regelmäßigkeit zusammenzieht und läßt. Wenn er über das linke Auge hinfährt, löscht er es fast aus. Für dieses Zusammenziehn haben sich in dem sonst ganz verfallenen Gesicht neue kleine frische Muskeln entwickelt. – Die talmudische Melodie genauer Fragen, Beschwörungen oder Erklärungen: In eine Röhre fährt die Luft und nimmt die Röhre mit, dafür dreht sich dem Befragten aus kleinen fernen Anfängen eine große im ganzen stolze in ihren Biegungen demüthige Schraube entgegen.

6 (Oktober 1911) Die zwei alten Männer vorn bei dem langen Tisch an der Bühne. Der eine stützt sich mit beiden Armen auf den Tisch und hat nur sein Gesicht, dessen falsche gedunsene Röte mit einem unregelmäßig viereckigen, verfilzten Bart darunter sein Alter traurig verheimlicht, rechts zur Bühne emporgewendet, während der andere der Bühne gerade gegenüber sein vom Alter richtig trockengewordenes Gesicht frei vom Tisch zurückhält, an den er sich nur mit dem linken Arm lehnt, und seinen rechten Arm in der Luft gebogen hält um die Melodie besser zu genießen, der seine Fußspitzen folgen und der die kurze Pfeife in seiner Rechten schwach nachgibt. "Tateleben, so sing doch mit" ruft die Frau bald dem ersten bald dem zweiten zu, indem sie sich ein wenig bückt und die Arme antreibend vorstreckt.

- Die Melodien sind dazu geeignet, jeden aufspringenden Menschen aufzufangen und ohne zu zerreißen seine ganze Begeisterung zu umfassen, wenn man schon einmal nicht glauben will, daß sie sie ihm geben. Denn besonders die 2 im Kaftan eilen zum Singen hin, als strecke es ihnen den Leib nach seinem eigentlichsten Bedürfnis und das Händezusammenschlagen während des Gesanges zeigt offenbar das beste Wohlsein des Menschen im Schauspieler an. – Die Kinder des Wirtes in einer Ecke bleiben mit der Frau Klug auf der Bühne in kindlicher Beziehung und singen mit, den Mund zwischen den sich aufstülpenden Lippen voll von der Melodie.

Das Stück: Seidemann, ein reicher Jude, hat sich in offenbarer Verdichtung aller seiner verbrecherischen Instinkte auf dieses Ziel hin, taufen lassen schon vor zwanzig Jahren und hat seine Frau damals, da sie sich zur Taufe nicht zwingen ließ, vergiftet. Seitdem hat er sich angestrengt, den Jargon zu vergessen, der freilich ohne Absicht in seiner Rede unten mitklingt, und äußert besonders am Anfang damit es sich die Zuhörer merken und weil die herankommenden Vorgänge dazu noch Zeit lassen immerfort einen großen Ekel vor allem Jüdischen. Seine Tochter hat er für den Officier Dragomirow bestimmt, während sie, die ihren Vetter den jungen Edelmann liebt, in einer großen Szene sich in einer ungebräuchlichen erst in der Taille gebrochenen steinernen Stellung aufrichtend ihrem Vater erklärt, daß sie fest am Judentum halte, und die einen ganzen Akt mit einem verächtlichen Lachen über den ihr angetanen Zwang beendet. [Die Christen des Stückes sind: ein braver polnischer Diener Seidemanns, der später zu seiner Entlarvung beiträgt, brav vor allem deshalb weil um Seidemann die Gegensätze versammelt sein müssen, der Officier, mit dem sich das Stück, abgesehen von der Darstellung seiner Verschuldung wenig abgibt, weil er als vornehmer Christ niemanden interessiert, ebenso wie ein später auftretender Gerichtspräsident und endlich ein Gerichtsdiener, dessen Bösartigkeit über die Anforderung seiner Stellung und der Lustigkeit der 2 Kaftanleute nicht hinausgeht, trotzdem ihn Max einen Pogromisten nennt.] Dragomirow kann aber aus irgendwelchen Gründen nur heiraten, wenn seine Wechsel ausgelöst werden, die der alte Edelmann besitzt, die dieser aber, trotzdem er vor der Abreise nach Palästina steht und trotzdem sie Seidemann mit Bargeld bezahlen will, nicht hergibt. Die Tochter ist gegen den verliebten Officier stolz und rühmt sich ihres Judentums trotzdem sie getauft ist, der Officier weiß sich nicht zu helfen und sieht, die Arme schlaff die Hände unten lose verschlungen, hilfesuchend den Vater an. Die Tochter entflieht zu Edelmann, sie will den Geliebten heiraten, wenn auch vorläufig im Geheimen, da ein Jude nach dem weltlichen Gesetz eine Christin nicht heiraten darf und sie offenbar ohne Zustimmung ihres Vaters nicht zum Judentum übergehn kann. Der Vater kommt hin, sieht ein, daß ohne List alles verloren wäre und gibt äußerlich seinen Segen zu dieser Ehe. Alle verzeihen ihm, ja fangen ihn so zu lieben an, als wären' sie im Unrecht gewesen, sogar der alte Edelmann und er besonders, trotzdem er weiß, daß Seidemann seine Schwester vergiftet hat. (Diese Lücke ist vielleicht durch eine Kürzung entstanden, vielleicht aber auch dadurch, daß das Stück hauptsächlich mündlich von einer Schauspielertruppe zur andern verbreitet ist) Durch diese Versöhnung erlangt Seidemann vor allem die Wechsel des Dragomirov, denn "weißt Du" sagt er "ich will nicht, daß dieser Dragomiriv schlecht von den Juden spricht" und Edelmann gibt sie ihm umsonst, dann ruft ihn Seidemann zur Portiere im Hintergrund, angeblich um ihm etwas zu zeigen, und sticht ihm von hinten ein Messer durch den Schlafrock tötlich in den Rücken. (Zwischen der Versöhnung und dem Mord war Seidemann eine Zeitlang von der Bühne entfernt, um sich den Plan auszudenken und das Messer zu kaufen) Dadurch will er den jungen Edelmann an den Galgen bringen, denn auf ihn muß der Verdacht fallen, und seine Tochter wird frei für Dragomirov. Er entläuft, Edelmann liegt hinter der Portiere. Die Tochter tritt mit dem Brautschleier auf, am Arm des jungen Edelmann der das Gebethemd angezogen hat. Der Vater ist wie sie sehn leider noch nicht da. Seidemann kommt und scheint glücklich über den Anblick des Brautpaares. Da erscheint ein Mann, vielleicht Dragomirov

8. X (1911)

selbst vielleicht bloß sein Schauspieler und eigentlich ein uns unbekannter Detektiv und erklärt eine Hausdurchsuchung vornehmen zu müssen "da man in diesem Hause seines Lebens nicht sicher sei". Seidemann: Kinder. Macht Euch keine Sorgen, das ist natürlich ein Irrtum, selbstverständlich. Es wird sich alles aufklären. Die Leiche Edelmanns wird gefunden, der junge Edelmann von seiner Geliebten gerissen und verhaftet. Einen ganzen Akt lang instruiert Seidemann mit großer Geduld und sehr gut betonten kleinen Zwischenbemerkungen (Ja, ja. Ganz gut. Also das ist falsch. Ja das ist schon besser. Allerdings allerdings.) die beiden im Kaftan wie sie vor Gericht die angebliche jahrelange Feindschaft zwischen dem alten und dem jungen Edelmann bezeugen sollen. Sie kommen schwer in Gang, es gibt viele Mißverständnisse, so treten sie bei einer improvisierten Probe der Gerichtszene vor und erklären, Seidemann habe ihnen anfgetragen die Sache in folgender Weise darzustellen, bis sie sich endlich so sehr in jene Feindschaft einleben, daß sie sogar, – Seidemann kann sie nicht mehr aufhalten – zu zeigen im Stande sind, wie der Mord selbst sich ereignet hat und der Mann die Frau mit Hilfe eines Kipfels niedersticht. Das ist natürlich wieder mehr, als nötig sein wird. Trotzdem ist Seidemann mit den beiden genügend zufrieden und erhofft mit ihrer Hilfe einen guten Ausgang des Processes. Hier greift für den gläubigen Zuhörer, ohne daß es irgendwie ausgesprochen würde, weil es selbstverständlich ist, Gott selbst an Stelle des zurückweichenden Schriftstellers ein und schlägt den Bösen mit Verblendung. Im letzten Akt sitzt als Gerichtspräsident wieder der ewige Dragomirowschauspieler da (auch darin zeigt sich die Mißachtung des Christlichen ein jüdischer Schauspieler kann gut drei christliche Rollen spielen und wenn er sie schlecht spielt macht es auch nichts) und neben ihm als Verteidiger mit großem Haar und Schnurrbartaufwand, bald erkannt, Seidemanns Tochter. Man erkennt sie zwar bald, hält sie aber lange mit Rücksicht auf Dragomirow für einen Schauspielerersatz, bis man gegen die Mitte des Aktes einsieht, daß sie sich verkleidet hat, um ihren Geliebten zu retten. Die zwei im Kaftan sollen jeder einzeln Zeugenschaft ablegen, das wird ihnen aber sehr schwer da sie es zu zweit eingeübt haben. Auch verstehen sie das Hochdeutsch des Präsidenten nicht, dem allerdings der Verteidiger, wenn es zu arg wird aushilft, wie er ihm auch sonst einsagen muß. Dann kommt Seidemann, der schon früher die im Kaftan durch Amkleidzupfen zu dirigieren versucht hat, macht durch seine fließende bestimmte Rede, durch seine verständige Haltung, durch richtige Ansprache des Gerichtspräsidenten gegenüber den frühernZeugen einen guten Eindruck, der in einem schrecklichen Gegensatz ist zu dem, was wir von ihm wissen. Seine Aussage ist ziemlich inhaltslos, er weiß leider sehr wenig von der ganzen Sache. Jetzt kommt aber im letzten Zeugen, dem Diener, der sich dessen nicht ganz bewußte eigentliche Ankläger Seidemanns. Er hat den Messereinkauf Seidemanns beobachtet, er weiß daß Seidemann in der entscheidenden Zeit bei Edelmann war, er weiß schließlich, daß Seidemann die Juden und besonders Edelmann haßte und seine Wechsel wollte. Die 2 im Kaftan springen auf und sind glücklich, das alles bekräftigen zu können. Seidemann wehrt sich als ein etwas verwirrter Ehrenmann. Da kommt die Rede auf seine Tochter. Wo ist sie? Zuhause natürlich und gibt ihm recht. Nein, das tut sie aber nicht, behauptet der Verteidiger und will es beweisen, wendet sich zur Wand, nimmt die Perücke ab und kehrt sich dem entsetzten Seidemann als seine Tochter zu. Strafend sieht das reine Weiß der Oberlippe aus, als sie auch den Schnurrbart entfernt. Seidemann hat Gift genommen, um der irdischen Gerechtigkeit zu entgehn, gesteht seine Übeltaten aber kaum mehr den Menschen, sondern dem jüdischen Gott, zu dem er sich jetzt bekennt. Inzwischen hat der Klavierspieler eine Melodie angeschlagen, die 2 im Kaftan fühlen sich von ihr ergriffen und müssen lostanzen. Im Hintergrund steht das vereinigte Brautpaar, sie singen, besonders der ernste Bräutigam die Melodie nach alter Tempelgewohnheit mit.

Erster Auftritt der zwei im Kaftan. Sie kommen mit Sammelbüchsen für Tempelzwecke in das Zimmer Seidemanns. Sehn sich um, fühlen sich unbehaglich, sehn einander an. Fahren die Türpfosten mit den Händen entlang, finden keine Mesusas. Auch bei den andern Türen nicht. Sie wollen es nicht glauben und springen an verschiedenen Türen in die Höhe und schlagen, wie beim Fliegenfangen, sich erhebend und niederfallend immer wieder ganz oben auf die Thürpfosten, daß es klatscht. Leider alles umsonst. Bisher haben sie kein Wort gesprochen.

Ähnlichkeit zwischen der Frau Klug und der vorjährigen Frau Weinberg. Frau Klug hat vielleicht ein um eine Kleinigkeit schwächeres und einförmigeres Temperament, dafür ist sie hübscher und anständiger. Die Weinberg hatte den ständigen Witz, ihre Mitspieler mit ihrem großen Hintern anzustoßen. Überdies hatte sie eine schlechtere Sängerin neben sich und war uns ganz neu.

Herrenimitatorin ist eigentlich eine falsche Benennung. Dadurch daß sie in ihrem Kaftan steckt, ist ihr Körper ganz vergessen. Nur durch ihr Schulterzucken und Rückendrehn, das wie unter Flohbissen geschieht, erinnert sie an ihren Körper. Die Ärmel müssen, trotzdem sie kurz sind, jeden Augenblick ein Stückchen hinaufgezogen werden, wovon sich der Zuschauer für die Frau, die soviel herauszusingen und auch in talmudischer Weise zu erklären hat, eine große Erleichterung verspricht und selbst aufpaßt, daß es geschieht.

Wunsch ein großes jiddisches Teater zu sehn, da die Aufführung doch vielleicht an dem kleinen Personal und ungenauer Einstudierung leidet. Auch der Wunsch, die jiddische Litteratur zu kennen, der offenbar eine ununterbrochene nationale Kampfstellung zugewiesen ist, die jedes Werk bestimmt. Eine Stellung also, die keine Litteratur auch die des unterdrücktesten Volkes in dieser durchgängigen Weise hat. Vielleicht geschieht es bei andern Völkern in Kampfzeiten, daß die nationale kämpferische Litteratur hochkommt und andere fernerstehende Werke durch die Begeisterung der Zuhörer einen in diesem Sinne nationalen Schein bekommen wie z. B. die verkaufte Braut, hier scheinen aber nur die Werke der ersten Art undzwar dauernd zu bestehen.

Der Anblick der einfachen Bühne, die die Schauspieler ebenso stumm erwartet wie wir. Da sie mit ihren 3 Wänden, dem Sessel und dem Tisch allen Vorgängen wird genügen müssen, erwarten wir nichts von ihr, erwarten mit unserer ganzen Kraft vielmehr die Schauspieler und sind daher widerstandlos von dem Gesang hinter den leeren Wänden angezogen, mit dem die Vorstellung eingeleitet wird.

9 X 11

Sollte ich das 40te Lebensjahr erreichen, so werde ich wahrscheinlich ein altes Mädchen mit vorstehenden, etwas von der Oberlippe entblößten Oberzähnen heiraten. Die obern Mittelzähne des Frl. Kaufmann, die in Paris u. London war, sind gegeneinander verschoben, wie Beine, die man in den Knien flüchtig kreuzt. Vierzig Jahre alt werde ich aber kaum werden, dagegen spricht z. B. die Spannung, die sich mir über die linke Schädelhälfte öfters legt, die sich wie ein innerer Aussatz anfühlt und die auf mich, wenn ich von den Unannehmlichkeiten absehe und nur betrachten will, den gleichen Eindruck macht wie der Anblick der Schädelquerschnitte in den Schullehrbüchern oder wie eine fast schmerzlose Sektion bei lebendem Leibe, wo das Messer ein wenig kühlend, vorsichtig, oft stehenbleibend und zurückkehrend, manchmal ruhig liegend blätterdünne Hüllen ganz nahe an arbeitenden Gehirnpartien noch weiter teilt.

Traum von heute nacht, den ich selbst früh noch nicht für schön hielt abgesehen von einer kleinen aus zwei Gegenbemerkungen bestehenden komischen Scene, die jenes ungeheuerliche Traumwohlgefallen zur Folge hatte, die ich aber vergessen habe. Ich gieng – ob gleich am Anfang Max dabei war weiß ich nicht – durch eine lange Häuserreihe in der Höhe des ersten bis 2ten Stockwerkes, so wie man in Durchgangszügen von einem Waggon zum andern geht. Ich gieng sehr rasch vielleicht auch weil manchmal das Haus so gebrechlich war, daß man schon deshalb eilte. Die Türen zwischen den Häusern fielen mir gar nicht auf, es war eben eine riesige Zimmerflucht und doch war nicht nur die Verschiedenheit der einzelnen Wohnungen sondern auch der Häuser zu erkennen. Es waren vielleicht lauter Zimmer mit Betten, durch die ich kam. Es ist mir ein typisches Bett in der Erinnerung geblieben, das seitwärts links von mir an der dunklen oder schmutzige vielleicht dachbodenartig schiefen Wand steht, einen niedrigen Aufbau von Bettwäsche hat und dessen Decke, eigentlich nur ein grobes Leintuch, zusammengetreten von den Füßen dessen, der hier geschlafen hat in einem Zipfel hinunterhängt. Ich fühlte mich beschämt, zu einer Zeit, wo noch viele Leute in den Betten lagen, durch ihre Zimmer zu gehn, gieng daher auf den Fußspitzen mit großen Schritten, durch die ich irgendwie zu zeigen hoffte, daß ich nur gezwungen durchgehe, alles möglichst schone und schwach auftrete, daß mein Durchgehn förmlich gar nicht gelte. Deshalb drehte ich auch im gleichen Zimmer niemals den Kopf und sah nur entweder das was rechts zur Gasse zu, oder was links zur Rückwand zu lag. Die Reihe von Wohnungen war öfters von Bordellen unterbrochen, durch die ich aber, trotzdem ich scheinbar ihretwegen diesen Weg' machte, besonders rasch gieng, so daß ich mir nichts als ihr Dasein gemerkt habe. Das letzte Zimmer aller Wohnungen war aber wieder ein Bordell und hier blieb ich. Die der Tür durch die ich eintrat gegenüberliegende Wand, also die letzte Wand der Häuserreihe war entweder aus Glas oder überhaupt durchbrochen und ich wäre beim Weitergehn hinuntergefallen. Es ist sogar wahrscheinlicher, daß sie durchbrochen war, denn es lagen gegen den Rand des Fußbodens die Dirnen, klar waren mir zwei, auf der Erde, der einen hieng der Kopf ein wenig über die Kante hinaus in die freie Luft hinunter. Links war eine feste Wand, dagegen war die Wand rechts nicht vollkommen, man sah in den Hof hinunter wenn auch nicht bis auf seinen Grund und eine baufällige graue Treppe führte in mehreren Abteilungen hinunter. Nach dem Licht im Zimmer zu schließen, war der Plafond so wie in den andern Zimmern. Ich hatte hauptsächlich mit der Dirne zu tun, deren Kopfherabhieng, Max mit der links neben ihr liegenden. Ich betastete ihre Beine und blieb dann dabei, ihre Oberschenkel regelmäßig zu drücken. Mein Vergnügen dabei war so groß, daß ich mich wunderte, daß man für diese Unterhaltung, welche doch gerade die schönste war, noch nichts zahlen müsse. Ich war überzeugt daß ich und ich allein die Welt betrüge. Dann erhob die Dirne bei ruhenden Beinen ihren Oberleib und wandte mir den Rücken zu, der zu meinem Schrecken mit großen siegellackroten Kreisen mit erblassenden Rändern und dazwischen versprengten roten Spritzern bedeckt war. Jetzt bemerkte ich, daß ihr ganzer Körper davon voll war, daß ich meinen Daumen auf ihren Schenkeln in solchen Flecken hielt und daß auch auf meinen Fingern diese roten Partikelchen wie von einem zerschlagenen Siegel lagen. Ich trat zurück unter eine Anzahl Männer die an der Wand nahe der Mündung der Treppe, auf der ein kleiner Verkehr stattfand, zu warten schienen. Sie warteten so, wie Männer auf dem Land am Sonntagmorgen auf dem Markt zusammenstehen. Deshalb war auch Sonntag. Hier spielte sich auch die komische Szene ab, indem ein Mann, vor dem ich und Max Grund hatten sich zu fürchten, weggieng, dann die Treppe heraufkam, zu mir trat und während ich und Max mit Angst irgend eine schreckliche Drohung von ihm erwarteten, eine lächerlich einfältige Frage an mich stellte. Dann stand ich dort und sah besorgt zu wie Max ohne Angst in diesem Lokal irgendwo links auf der Erde saß und eine dicke Kartoffelsuppe aß, aus der die Kartoffeln als große Kugeln heraussahen, hauptsächlich eine. Er drückte sie mit dem Löffel, vielleicht mit 2 Löffeln in die Suppe hinein oder wälzte sie bloß.

10. X 11 Einen sophistischen Artikel für und gegen die Anstalt in die Tetschner-Bodenbacher Zeitung geschrieben.

Gestern abend auf dem Graben. Mir entgegen drei Schauspielerinnen, die aus der Probe kamen. Es ist so schwer, sich in der Schönheit von 3 Frauen rasch auszukennen, wenn man auch noch 2 Schauspieler ansehn will, die hinter ihnen in dem allzu schwingenden und auch noch beschwingten Schauspielerschritt herankommen. Die zwei, von denen der linke mit seinem jugendlich fetten Gesicht, dem offenen um die starke Gestalt schlagenden Überzieher genug charakteristisch für beide ist, überholen die Damen, der linke auf dem Trottoir, der rechte in der Fahrbahn unten. Der linke faßt seinen Hut hoch oben, greift mit allen 5 Fingern hinein, hebt ihn hoch und ruft (jetzt erst erinnert sich der rechte): Auf Wiedersehn! Gute Nacht! Während aber dieses Überholen und Grüßen die Herren auseinandergebracht hat, gehn die gegrüßten Frauen, wie geführt von der zur Fahrbahn nächsten, die die schwächste und längste, aber auch jüngste und schönste zu sein scheint, ganz unbeirrt mit leichtem ihr abgestimmtes Gespräch kaum unterbrechendem Gruß ihren Weg weiter. Das Ganze schien mir im Augenblick ein starker Beweis dafür zu sein, daß die hiesigen Teaterverhältnisse geordnet und gut geführt sind.

Vorgestern bei den Juden im Cafe Savoy. Die "Sejdernacht" von Feimann. Zu Zeiten griffen wir (im Augenblick durchflog mich das Bewußtsein dessen) nur deshalb in die Handlung nicht ein, weil wir zu erregt, nicht deshalb weil wir bloß Zuschauer waren.

12. X 11. Gestern bei Max am Pariser Tagebuch geschrieben. Im Halbdunkel der Rittergasse die in ihrem Herbstkostüm dicke warme Rehberger, die wir nur in ihrer Sommerblouse und dem dünnen blauen Sommerjäckchen gekannt haben in denen ein Mädchen mit nicht ganz fehlerlosem Aussehn schließlich ärger als nackt ist. Da hatte man erst recht ihre starke Nase in dem blutleeren Gesicht gesehn, in dessen Wangen man lange die Hände hätte drücken können, ehe sich eine Rötung gezeigt hätte, den starken blonden Flaum, der sich auf der Wange und der Oberlippe häufte, den Eisenbahnstaub, der sich zwischen Nase und Wange verflogen hatte und das schwächliche Weiß im Blousenausschnitt. Heute aber liefen wir ihr respektvoll nach und als ich mich an der Mündung eines Durchhauses vor der Ferdinandstraße verabschieden mußte wegen Unrasiertheit und sonstigem schäbigem Aussehn (Max war gerade sehr schön mit schwarzem Überzieher, weißem Gesicht und Brillenglanz) fühlte ich nachher einige kleine Stöße von Zuneigung zu ihr. Und wenn ich nachdachte warum, mußte ich mir immer nur sagen, weil sie so warm angezogen war.

13 X 11 Kunstloser Übergang von der gespannten Haut der Glatze meines Chefs zu den zarten Falten seiner Stirn. Eine offenbare, sehr leicht nachzuahmende Schwäche der Natur, Banknoten dürften nicht so gemacht sein.

Die Beschreibung der Rehberger hielt ich nicht für gelungen, sie muß aber doch besser gewesen sein als ich glaubte oder mein vorgestriger Eindruck von der Rehberger muß so unvollständig gewesen sein, daß ihm die Beschreibung entsprach oder ihn gar überholte. Denn als ich gestern abend nachhause gieng, fiel mir augenblicksweise die Beschreibung ein, ersetzte unbemerkt den ursprünglichen Eindruck und ich glaubte die Rehberger erst gestern gesehn zu haben undzwar ohne Max, so daß ich mich vorbereitete, ihm von ihr zu erzählen, gerade so wie ich sie mir hier beschrieben habe.

Gestern abend auf der Schützeninsel, meine Kollegen nicht gefunden und gleich weggegangen. Ich machte einiges Aufsehen in meinem Röckchen mit dem zerdrückten weichen Hut in der Hand, denn draußen war kalt, hier aber heiß von dem Athem der Biertrinker, Raucher und Bläser des Militärorchesters. Dieses Orchester war nicht sehr erhöht, konnte es auch nicht sein, weil der Saal ziemlich niedrig ist und füllte das eine Ende des Saals bis an die Seitenwände aus. Wie eingepaßt war diese Menge von Musikern in dieses Saalende hineingeschoben. Dieser Eindruck des Gedrängtseins verlor sich dann ein wenig im Saal, da die Plätze nahe beim Orchester ziemlich leer waren und der Saal sich erst gegen die Mitte

füllte.

Geschwätzigkeit des Dr. Kafka. Gieng zwei Stunden hinter dem Franz-Josefs-Bahnhof mit ihm herum, bat ihn von Zeit zu Zeit mich wegzulassen, hatte die Hände vor Ungeduld verflochten und hörte so wenig zu als möglich war. Es schien mir, daß ein Mensch, der in seinem Beruf Gutes leistet, wenn er sich in Berufsgeschichten hineinerzählt hat, unzurechnungsfähig werden muß; seine Tüchtigkeit kommt ihm zu Bewußtsein, von jeder Geschichte ergeben sich Zusammenhänge undzwar mehrere, er überblickt alle, weil er sie erlebt hat, muß in der Eile und aus Rücksicht auf mich viele verschweigen, einige zerstöre ich ihm auch durch Fragen, bringe ihn aber dadurch auf andere, zeige ihm dadurch, daß er auch weit in mein eigenes Denken hinein herrscht, seine Person hat in den meisten Geschichten eine schöne Rolle, die er nur andeutet, wodurch ihm das Verschwiegene noch Bedeutungsvoller scheint, nun ist er aber schon meiner Bewunderung so sicher, daß er auch klagen kann, denn selbst in seinem Unglück, seiner Plage, seinem Zweifel ist er bewunderungswürdig, seine Gegner sind auch tüchtige Leute und erzählenswert, in einer Advokatenkanzlei, die 4 Concipisten und 2 Chefs hat, war eine Streitsache, in der er allein dieser Kanzlei gegenüberstand durch Wochen das Tagesgespräch dieser 6 Juristen. Ihr bester Redner, ein scharfer Jurist, stand ihm gegenüber, daran fügt sich der oberste Gerichtshof, dessen Urteile angeblich schlecht, einander widersprechend sind, ich sage im Tone des Abschieds eine Spur von Verteidigung dieses Gerichtes, nun bringt er Beweise, daß dieses Gericht nicht verteidigt werden kann und wieder muß man die Gasse hinauf und hinab, ich wundere mich sofort über die Schlechtigkeit dieses Gerichtes, darauf erklärt er, warum das so sein muß das Gericht ist überbürdet, warum und wieso, gut ich muß weg, nun ist aber der Kassationshof besser und der Verwaltungsgerichtshof noch viel besser und warum und wieso, endlich bin ich nicht mehr zu halten, nun versucht er es mit meinen eigenen Angelegenheiten, wegen deren ich zu ihm gekommen bin (Gründung der Fabrik) und die wir schon längst durchgesprochen haben, er hofft unbewußt, mich auf diese Weise zu fangen und zu seinen Geschichten wieder verlocken zu können. Nun sage ich etwas, halte aber während meiner Worte die Hand ausdrücklich zum Abschied hin und werde so frei. Er erzählt übrigens sehr gut, in seinem Erzählen mischt sich das genaue Ausgebreitetsein der Schriftsätze mit der lebhaften Rede, wie man sie öfters bei so fetten, schwarzen, vorläufig gesunden, mittelgroßen, von fortwährendem Zigarettenrauchen erregten Juden findet. Gerichtliche Ausdrücke geben der Rede Halt. Paragraphen werden genannt, deren hohe Zahl sie in die Ferne zu verweisen scheint. Jede Geschichte wird von Anfang an entwickelt, Rede und Gegenrede wird vorgebracht und durch persönliche Zwischenbemerkungen förmlich geschüttelt, nebensächliches, an das niemand denken würde, wird zuerst erwähnt, dann nebensächlich genannt und bei Seite geschoben, ("ein Mann, wie er heißt, ist Nebensache" – ) der Zuhörer wird persönlich herangezogen, ausgefragt, während die Geschichte nebenan sich verdichtet, manchmal wird der Zuhörer sogar vor einer Geschichte, die ihn gar nicht interessieren kann, natürlich nutzlos ausgefragt, um irgend eine provisorische Beziehung herzustellen, eingeschobene Bemerkungen des Zuhörers werden nicht sofort, was ärgerlich wäre (Kubin) sondern zwar bald aber doch erst im Laufe der Erzählung an richtiger Stelle eingelegt, was als sachliche Schmeichelei den Zuhörer in die Geschichte hineinzieht, weil es ihm ein ganz besonderes Recht giebt, hier Zuhörer zu sein.

14. X 11 Gestern abend im Savoy. Sulamit von A. Goldfaden. Eigentlich eine Oper, aber jedes gesungene Stück heißt Operette, mir scheint schon diese Kleinigkeit auf ein eigensinniges, übereiltes, auch aus falschen Gründen heißgewordenes, die europäische Kunst in einer zum Teil zufälligen Richtung durchschneidendes künstlerisches Bestreben zu deuten. Die Geschichte: Ein Held rettet ein Mädchen, das sich – "ich bet Dir großer starker Gott" – in der Wüste verirrt und vor Durstqualen in eine Cisterne gestürzt hat. Sie schwören einander Treue (meine Teuere, meine Liebst, mein Brillant gefunden in der Wüste) unter Anrufung des Brunnens und einer rotäugigen Wüstenkatze. Das Mädchen, Sulamith (Fr. Tschissik), wird von Cingitang, dem wilden Diener Absolons (Pipes) nach Betlehem zu ihrem Vater Monoach (Tschissik) zurückgeführt, während Absolon (Klug) noch eine Reise nach Jerusalem macht; dort aber verliebt er sich in Awigail ein reiches Mädchen aus Jerusalem (Klug), vergißt an Sulamit und heiratet. Sulamit wartet auf den Geliebten zuhause in Betlehem. "Viele Menschen gehen nach Jeruscholajim und kommen beschulim". "Er der Feiner will mir untreu werden! " Durch verzweifelte Ausbrüche erwirbt sie sich eine auf alles gefaßte Zuversicht und beschließt sich wahnsinnig zu stellen um nicht heiraten zu müssen und warten zu können. "Mein Wille ist von Eisen, mein Herz mach ich zur Festung". Und noch in dem Wahnsinn, den sie jetzt jahrelang spielt, genießt sie traurig und laut mit erzwungener Erlaubnis aller die Erinnerung an den Geliebten, denn ihr Wahnsinn handelt nur von der Wüste, dem Brunnen und der Katze. Durch ihren Wahnsinn vertreibt sie gleich ihre 3 Freier, mit denen Manoach nur durch Veranstaltung einer Lotterie in Frieden auskommen konnte: Joef Gedoni (Urich) "ich bin der stärkste jüdische Held", Avidanov, den Gutsbesitzer (R. Pipes) und den bauchigen Priester Nathan (Löwy) der sich über allen fühlt "Gebt Sie mir, ich sterb nach ihr". Absolon hatte Unglück ein Kind ist ihm von einer Wüstenkatze totgebissen worden, das zweite fällt in einen Brunnen. Er erinnert sich seiner Schuld, gesteht Awigail alles, "Mäßige Dein Gewein". "Hör auf mit Dein Wort mir mein Herz zu spalten". "Leider ist alles Eines, was ich sage". Einige Gedankenkreise bilden sich um beide und vergehn. Soll Absolon zu Sulamith zurück und Awigail verlassen? Auch Sulamit verdient Rachmones. Endlich entläßt ihn Awigail. In Betlehem klagt Manoach über seiner Tochter "Wehe o meine alten Jahre". Absolon heilt sie mit seiner Stimme. "Das übrige Vater werde ich Dir schon später erzählen". Awigail versinkt dort unten im Weingarten Jerusalems, Absolon hat als Rechtfertigung nur sein Heldentum.

Am Schluß der Vorstellung erwarten wir noch den Schauspieler Löwy, den ich im Staub bewundern möchte. Er soll wie üblich "annoncieren". "Liebe Gäste, ich danke ihnen in unser aller Namen für ihren Besuch und lade Sie herzlich zur morgigen Vorstellung ein, in welcher das weltberühmte Meisterwerk – vom – zur Aufführung kommen wird. Auf Wiedersehn! " Ab mit Hüteschwenken. Statt dessen sehn wir den Vorhang einmal festzugehalten, dann wieder versuchsweise ein Stückchen auseinandergezogen werden. Es dauert ziemlich lange. Endlich wird er weit auseinandergezogen, in der Mitte hält ihn ein Knopf zusammen, dahinter sehn wir Löwy seinen Schritt zur Rampe machen und sich nur mit den Händen, das Gesicht uns dem Publikum zugewendet, gegen jemanden wehren, der ihn von unten angreift, bis plötzlich der ganze Vorhang mit seiner obern Drahtbefestigung von Löwy der einen Halt haben will, heruntergerissen und Löwy vor unsern Augen in den Knien einknickend von Pipes der den Wilden gespielt hat, und der sich noch als sei der Vorhang vorgezogen gebückt hält, umfaßt und förmlich mit dem Kopf vom Podium seitwärts hinuntergestoßen wird. Man lauft im seitlichen Saaltrakt zusammen. Den Vorhang vorziehn! ruft man auf der fast ganz enthüllten Bühne, auf der Frau Tschissik mit dem bleichen Sulamitgesicht so beklagenswert steht, kleine Kellner auf Tischen und Sesseln bringen den Vorhang halbwegs in Ordnung, der Wirt sucht den Regierungsvertreter zu beruhigen, der nur den einzigen Wunsch hat wegzukommen und durch diesen Beruhigungsversuch aufgehalten wird, hinter dem Vorhang hört man Frau Tschissik: "Da wollen wir von der Bühne dem Publikum Moral predigen...."; der Verein jüd. Kanzleidiener "Zukunft" der den morgigen Abend in eigener Regie übernommen und vor der heutigen Vorstellung eine ordentliche Generalversammlung abgehalten hat, beschließt, wegen dieses Vorfalles binnen einer halben Stunde eine außerordentliche Versammlung einzuberufen, ein tschechisches Vereinsmitglied prophezeit den Schauspielern, infolge ihres skandalösen Benehmens vollständigen Untergang. Da sieht man plötzlich Löwy, der wie verschwunden war, vom Oberkellner Roubitschek mit den Händen, vielleicht auch mit den Knien zu einer Tür hin gestoßen werden. Er soll einfach herausgeworfen werden. Dieser Oberkellner, der vor jedem Gast auch vor uns früher und später wie ein Hund dasteht, mit hündischer Schnauze die sich über einen großen von demütigen Seitenfalten geschlossenen Mund senkt, hat sein

16. X 11 Anstrengender Sonntag gestern. Dem Vater hat das ganze Personal gekündigt. Durch gute Reden, Herzlichkeit, Wirkung seiner Krankheit, seiner Größe und frühern

Stärke, seiner Erfahrung, seiner Klugheit erkämpft er sich in allgemeinen und privaten Unterredungen fast alle zurück. Ein wichtiger Contorist Franz will Bedenkzeit, bis Montag, weil er unserem Geschäftsführer der austritt und das ganze Personal in sein neu zu gründendes Geschäft hinüberziehen möchte, das Wort gegeben hat. Am Sonntag schreibt der Buchhalter er könne doch nicht bleiben, der Roubitschek lasse ihn nicht aus dem Wort. Ich fahre zu ihm nach Zizkov. Seine junge Frau mit runden Wangen länglichem Gesicht und einer kleinen groben Nase wie sie tschechische Gesichter nie verdirbt. Zu langer sehr loser, geblümter und fleckiger Morgenrock. Er wird besonders lang und lose, weil sie besonders eilige Bewegungen macht, um mich zu begrüßen, zur letzten Verschönerung das Album auf dem Tisch richtig zu legen und zu verschwinden, um ihren Mann holen zu lassen. Der Mann mit ähnlichen vielleicht von der sehr abhängigen Frau nachgeahmten eiligen bei vorgebeugtem Oberkörper stark pendelnden Bewegungen, unterdessen der Unterleib auffallend zurückbleibt. Eindruck eines seit 10 Jahren gekannten, oft gesehenen, wenig beachteten Menschen, mit dem man plötzlich in nähere Beziehung kommt. Je weniger ich mit meinem tschechischen Zureden Erfolg habe (er hatte ja schon einen unterschriebenen Kontrakt mit Roubitschek, nur war er Samstag abend durch meinen Vater so bestürzt geworden, daß er vom Kontrakt nicht gesprochen hatte) desto katzenmäßiger wird sein Gesicht. Ich spiele gegen Schluß ein wenig mit sehr behaglichem Gefühl, so schaue ich mit etwas langgezogenem Gesicht und verkleinerten Augen stumm im Zimmer herum als verfolgte ich etwas Angedeutetes ins Unsagbare. Bin aber nicht unglücklich, als ich sehe daß es wenig Wirkung hat, und ich statt von ihm in einem neuen Tone angesprochen zu werden, von neuem anfangen muß, in ihn hineinzureden. Eingeleitet wurde das Gespräch damit, daß auf der andern Gassenseite ein anderer Tullach wohnt, beschlossen wurde es bei der Tür mit seiner Verwunderung über meinen leichten Anzug bei der Kälte. Bezeichnend für meine ersten Hoffnungen und schließlichen Mißerfolg. Ich verpflichtete ihn aber nachmittag zum Vater zu kommen. Meine Argumentation stellenweise zu abstrakt und formell. Fehler die Frau nicht ins Zimmer gerufen zu haben.

Nachmittag nach Radotin, um den Contoristen zu halten. Komme dadurch um das Zusammensein mit Löwy, an den ich fortwährend denke. Im Waggon: Nasenspitze der alten Frau mit fast noch jugendlich gespannter Haut. Endet also die Jugend auf der Nasenspitze und fängt dort der Tod an? Das Schlucken der Passagiere das den Hals heruntergleitet, die Mundverbreiterung als Zeichen daß sie die Eisenbahnfahrt, die Zusammensetzung der andern Passagiere, ihre Sitzordnung, die Temperatur im Waggon, selbst das Heft des Pan, das ich auf dem Knie habe und das einige von Zeit zu Zeit anschauen (da es immerhin etwas ist, was sie im Coupee unmöglich haben voraussehn können) als einwandfrei, natürlich, unverdächtig beurteilen, wobei sie noch glauben, daß alles auch viel ärger hätte sein können. Auf und ab im Hof des Herrn Haman, ein Hund legt eine Pfote auf meine Fußspitze, die ich schaukle. Kinder, Hühner, hie und da Erwachsene. Ein zeitweise auf der Pawlatsche heruntergebeugtes oder hinter einer Tür sich versteckendes Kindermädchen hat Lust auf mich. Ich weiß unter ihren Blicken nicht, was ich gerade bin, ob gleichgültig, verschämt, jung oder alt, frech oder anhänglich, Hände hinten oder vorn haltend, frierend oder heiß, Tierliebhaber oder Geschäftsmann, Freund des Haman oder Bittsteller, den Versammlungsteilnehmern, die manchmal in einer ununterbrochenen Schleife aus dem Lokal ins Pissoir und zurückgehn überlegen oder infolge meines leichten Anzugs lächerlich, ob Jude oder Christ u.s.w. Das Herumgehn, Naseabwischen, hie und da im Pan lesen, furchtsam mit den Augen die Pawlatsche meiden, um sie plötzlich als leer zu erkennen, dem Geflügel zuschauen, sich von einem Mann grüßen zu lassen, durch das Wirtshausfenster die flach und schief neben einander gestellten Gesichter der einem Redner zugewendeten Männer zu sehn, alles hilft dazu. Hr. Haman, der von Zeit zu Zeit aus der Versammlung kommt, und den ich bitte, seinen Einfluß auf den Contoristen, den er in unser Geschäft gebracht hat, für uns auszunützen. Schwarzbrauner Bart, Wangen und Kinn umwachsend, schwarze Augen, zwischen Augen und Bart die dunklen Tönungen der Wangen. Er ist Freund meines Vaters, ich kannte ihn schon als Kind und die Vorstellung, daß er Kaffeeröster war, hat mir ihn immer noch dunkler und männlicher gemacht als er war.

17. X 11 Nichts bringe ich fertig, weil ich keine Zeit habe und es in mir so drängt. Wenn der ganze Tag frei wäre und diese Morgenunruhe in mir bis zum Mittag steigen und bis zum Abend sich ermüden könnte dann könnte ich schlafen. So aber bleibt für diese Unruhe nur höchstens eine Abenddämmerungstunde, sie verstärkt sich etwas, wird dann niedergedrückt und gräbt mir die Nacht unnütz und schädlich auf. Werde ich es lange aushalten? Und hat es einen Zweck es auszuhalten, werde ich denn Zeit bekommen?

Wenn ich an diese Anekdote denke: Napoleon erzählt bei der Hoftafel in Erfurt: Als ich noch bloßer Lieutenant im 5. Regiment war .. (die königlichen Hoheiten sehn einander betreten an, Napoleon bemerkt es und korrigiert sich) als ich noch die Ehre hatte, bloßer Lieutenant...; schwellen mir die Halsadern vor leicht nachgefühltem, künstlich in mich eindringenden Stolz.

weiter in Radotin: ich gieng dann allein frierend im Wiesengarten herum, erkannte dann im offenen Fenster das mit mir auf diese Seite des Hauses gewanderte Kindermädchen –

20. (Oktober 1911) Den 18 bei Max, über Paris geschrieben. Schlecht geschrieben ohne eigentlich in das Freie der eigentlichen Beschreibung zu kommen, die einem den Fuß vom Erlebnis löst. Ich war auch dumpf nach der großen Erhebung des vorigen Tages, der mit der Vorlesung Löwys geendet hatte. Am Tage war ich noch in keiner außergewöhnlichen Verfassung gewesen, war mit Max seine von Gablonz angekommene Mutter holen, war mit ihnen im Kaffeehaus und dann bei Max, der mir aus dem "Mädchen von Perth" einen Zigeunertanz vorspielte. Ein Tanz in dem sich seitenlang nur die Hüften mit eintönigem Ticken wiegen und das Gesicht einen langsamen herzlichen Ausdruck hat. Bis dann gegen Ende kurz und spät die angelockte innere Wildheit kommt, den Körper schüttelt, ihn überwältigt, die Melodie zusammendrückt, daß sie in die Höhe und Tiefe schlägt, (besonders bittere dumpfe Töne hört man heraus) und dann einen unbeachteten Schluß macht. Am Anfang und unverlierbar während des Ganzen ein starkes Nahesein dem Zigeunertum, vielleicht weil ein im Tanz so wildes Volk sich ruhig nur dem Freunde zeigt. Eindruck großer Wahrheit des ersten Tanzes. Dann in "Aussprüche Napoleons" geblättert. Wie leicht wird man augenblicksweise ein Teilchen der eigenen ungeheueren Vorstellung Napoleons! Dann gieng ich schon kochend nach Hause, keiner meiner Vorstellungen konnte ich standhalten, ungeordnet, schwanger, zerrauft, geschwollen, in der Mitte meiner um mich herum rollenden Möbel, überflogen von meinen Leiden und Sorgen, möglichst viel Raum einnehmend, denn trotz meines Umfanges war ich sehr nervös, zog ich im Vortragssaal ein. Aus der Art, wie ich z. B. saß und sehr wahrhaftig saß, hätte ich als Zuschauer meinen Zustand gleich erkannt. Löwy las von Scholem aleichem Humoresken, dann eine Geschichte von Perez, ein Gedicht von Bialik (nur hier hat sich der Dichter um sein den Kischenewer Pogrom für die jüdische Zukunft ausbeutendes Gedicht zu popularisieren, aus dem Hebräischen in den Jargon herabgelassen und sein ursprünglich hebräisches Gedicht selbst in Jargon übersetzt), die "Lichtverkäuferin" von Rosenfeld. Ein dem Schauspieler natürliches, wiederkehrendes Aufreißen der Augen, die nun ein Weilchen so stehen gelassen werden von den hochgezogenen Augenbrauen umrahmt. Vollständige Wahrheit der ganzen Vorlesung; die schwache von der Schulter aus veranlaßte Hebung des rechten Armes; das Rücken am Zwicker, der ausgeborgt scheint so schlecht paßt er auf die Nase; die Haltung des Beines unter dem Tisch, das so ausgestreckt ist, daß besonders die schwachen Verbindungsknochen zwischen Ober- und Unterschenkel in Tätigkeit sind; die Krümmung des Rückens, der schwach und elend aussieht, da sich der Beobachter einem einheitlichen einförmigen Rücken gegenüber im Urteil nicht betrügen läßt, wie dies beim Anschauen des Gesichtes durch die Augen, die Höhlungen und Vorsprünge der Wangen aber auch durch jede Kleinigkeit und sei es eine Bartstoppel geschehen kann. Nach der Vorlesung schon auf dem Nachhauseweg fühlte ich alle Fähigkeiten gesammelt und klagte deshalb meinen Schwestern, zuhause sogar der Mutter.

am 19 beim Dr. Kafka wegen der Fabrik. Die leichte teoretische Feindseligkeit, die bei Vertragsabschlüssen zwischen den Kontrahenten entstehen muß. Wie ich mit den Augen das Gesicht Karls absuchte, das dem Doktor zugewendet war. Diese Feindseligkeit muß umsomehr zwischen 2 Menschen entstehen, die sonst nicht gewohnt sind ihr gegenseitiges Verhältnis zu durchdenken und sich daher an jeder Kleinigkeit stoßen. – Die Gewohnheit des Dr. Kafka diagonal im Zimmer herumzugehn, mit dem gespannten, salonmäßigen, nach Vorneschwanken des Oberkörpers, dabei zu erzählen und häufig am Ende einer Diagonale die Asche seiner Zigarette in einen der 3 im Zimmer verteilten Aschenbecher abzuschütteln.

heute früh bei Löwy u. Winterberg. Wie sich der Chef mit dem Rücken seitlich in seinen Lehnstuhl stemmt, um Raum und Stütze für seine ostjüdischen Handbewegungen zu bekommen. Das Zusammenspiel und gegenseitige Sichverstärken des Hände- und Mienenspiels. Manchmal verbindet er beides, indem er entweder seine Hände ansieht oder sie zur Bequemlichkeit des Zuhörers nahe beim Gesicht hält. Tempelmelodien im Tonfall seiner Rede, besonders beim Aufzählen mehrerer Punkte führt er die Melodie von Finger zu Finger wie über verschiedene Register. Dann am Graben den Vater mit einem Hr. Preißler getroffen, der hebt sogar die Hand, damit der Ärmel etwas zurückfällt, (selbst will er den Ärmel doch nicht zurückziehn) und macht mitten auf dem Graben die mächtigen Schraubenbewegungen mit dem ausgleitenden Öffnen der Hand und Ausspreizen der Finger

Ich bin wahrscheinlich krank, seit gestern juckt mich der Körper überall. Nachmittag hatte ich ein so heißes, verschiedenfarbiges Gesicht, daß ich beim Haareschneiden fürchtete, der Gehilfe, der doch mich und mein Spiegelbild immerfort sehn konnte, werde an mir eine große Krankheit erkennen. Auch die Verbindung zwischen Magen und Mund ist teilweise gestört, ein guldengroßer Deckel steigt entweder auf und ab oder liegt unten und strahlt mit einer sich verbreitenden, die Brust an der Oberfläche überziehender, leicht drückender Wirkung empor.

weiter in Radotin: lud sie ein herunterzukommen. Die erste Antwort war ernst, trotzdem sie bisher mit dem ihr anvertrauten Mädchen zu mir hinüber so gekichert und kokettiert hatte, wie sie es von dem Augenblick an, wo wir bekannt waren, nie gewagt hätte. Wir lachten dann viel zusammen, trotzdem ich unten und sie oben beim offenen Fenster fror. Sie drückte ihre Brüste an die gekreuzten Arme und alles mit offenbar gebeugten Knien an die Fensterbrüstung. Sie war 17 Jahre alt und hielt mich für 15 – 16 jährig, wovon sie durch unser ganzes Gespräch nicht abgebracht wurde. Ihre kleine Nase gieng ein wenig schief und warf daher einen ungewöhnlichen Schatten auf die Wange, der mir allerdings nicht helfen könnte, sie wieder zu erkennen. Sie war nicht aus Radotin, sondern aus Chuchle (die nächste Station gegen Prag) was sie nicht vergessen lassen wollte. Dann Spaziergang mit dem Contoristen, der auch ohne meine Reise in unserem Geschäft geblieben wäre, im Dunkel auf der Landstraße aus Radotin heraus und zurück zum Bahnhof. Auf der einen Seite wüste von einer Cementfabrik für ihren Kalksandbedarf ausgenützte Anhöhen. Alte Mühlen. Erzählung von einer durch Windhose aus der Erde gequirlten Pappel sammt ihren zuerst steil in die Erde gehenden dann sich ausbreitenden Wurzeln. Gesicht des Contoristen: teigartiges rötliches Fleisch auf starken Knochen, sieht müde, aber in seinen Grenzen kräftig aus. Staunt nicht einmal im Tonfall darüber, daß wir hier zusammen spazieren gehn. Auf einem großen von einer Fabrik vorsichtsweise angekauften vorläufig brachgelassenen, mitten im Ort liegenden, von stark aber nur stellenweise von elektr. Licht beworfenen Fabriksgebäuden umgebenen Feld. Klarer Mond, von Licht erfüllter, daher wolkiger Rauch aus einem Kamin. Zugsignale. Rascheln von Ratten neben dem langen das Feld kreuzendem gegen den Willen der Fabrik von der Bevölkerung eingetretenen Weg.

Beispiele für die Kräftigung, die ich diesem im Ganzen doch geringfügigem Schreiben verdanke:

Montag, den 16. war ich mit Löwy im Nationalteater bei "Dubrovnicka trilogie". Stück und Aufführung war trostlos. Im Gedächtnis bleibt nur aus dem ersten Akt der schöne Klang einer Kaminuhr; das Singen der Marseillaise einziehender Franzosen vor dem Fenster, immer wieder wird das verhallende Lied von den neu Herankommenden aufgenommen und steigt an; ein schwarzgekleidetes Mädchen zieht ihren Schatten durch den Lichtstreifen, den die untergehende Sonne auf das Parkett legt. Aus dem 2ten Akt bleibt nur der zarte Hals eines Mädchens, der aus rotbraunbekleideten Schultern zwischen Puffärmeln zum kleinen Kopf sich dehnt und spannt. Aus dem dritten Akt der zerdrückte Kaiserrock, die dunkle Phantasieweste mit goldener quergezogener Uhrkette eines alten gebückten Nachkommen der früheren Gosparen. Viel ist das also nicht. Außerdem gestand mir L. seinen Tripper; dann berührte mein Haar das seine als ich seinem Kopf mich zuneigte, ich bekam Furcht wegen immerhin möglicher Läuse; die Sitze waren teuer, ich hatte als schlechter Wohltäter hier Geld herausgeworfen, während er in Not war; endlich langweilte er sich noch etwas mehr als ich. Kurz ich hatte wieder das Unglück bewiesen, daß alle Unternehmungen haben, die ich allein anfange. Während ich aber sonst mich mit diesem Unglück untrennbar vereinige, alle frühern Unglücksfälle zu mir herauf, alle späteren zu mir herunterziehe, war ich diesmal fast vollständig unabhängig, ertrug alles als etwas einmaliges ganz leicht und fühlte sogar zum erstenmal im Teater meinen Kopf als einen Zuschauerkopf aus dem gesammelten Dunkel der Fauteuils und Körper in ein besonderes Licht hochgehoben, unabhängig von der schlechten Veranlassung dieses Stückes und dieser Aufführung.

Ein zweites Beispiel: Gestern abend reichte ich meinen beiden Schwägerinnen in der Mariengasse gleichzeitig beide Hände mit einer Geschicklichkeit, wie wenn es zwei rechte Hände wären und ich eine Doppelperson.

21. (Oktober 1911) Ein Gegenbeispiel: Meinem Chef kann ich, wenn er mit mir Bureauangelegenheiten beräth (heute die Karthotek) nicht lange in die Augen schauen, ohne daß in meinen Blick gegen allen meinen Willen eine leichte Bitterkeit kommt, die entweder meinen oder seinen Blick abdrängt. Seinen Blick flüchtiger aber öfter, da er sich des Grundes nicht bewußt ist, jedem Anreiz wegzuschauen nachgibt, gleich aber den Blick zurückkehren läßt, da er das Ganze nur für eine augenblickliche Ermattung seiner Augen hält. Ich wehre mich dagegen stärker, beschleunige daher das zickzackartige meines Blickes, schaue noch am liebsten seine Nase entlang und in die Schatten zu den Wangen hin, halte das Gesicht in seiner Richtung oft nur mit Hilfe der Zähne und der Zunge im geschlossenen Mund, wenn es sein muß, senke ich zwar die Augen aber niemals tiefer als bis zu seiner Kravatte, bekomme aber gleich den vollsten Blick, wenn er die Augen wegwendet und ich ihm genau und ohne Rücksicht folge.

Die jüdischen Schauspieler: Frau Tschissik hat Vorsprünge auf den Wangen in der Nähe des Mundes. Entstanden teils durch eingefallene Wangen infolge der Leiden des Hungers, des Kindbetts, der Fahrten und des Schauspielens teils durch ruhende ungewöhnliche Muskeln die sich für die Schauspielbewegungen ihres großen ursprünglich sicher schwerfälligen Mundes entwickeln mußten. Als Sulamith hatte sie meist die Haare gelöst, die ihre Wangen verdeckten, so daß ihr Gesicht manchmal wie ein Mädchengesicht aus früherer Zeit aussah. Sie hat einen großen, knochigen, mittelstarken Körper und ist fest geschnürt. Ihr Gang bekommt leicht etwas feierliches, da sie die Gewohnheit hat, ihre langen Arme zu heben, zu strecken und langsam zu bewegen. Besonders als sie das jüdische Nationallied sang, in den großen Hüften schwach schaukelte und die parallel den Hüften gebogenen Arme auf und ab bewegte mit ausgehöhlten Händen, als spiele sie mit einem langsam fliegenden Ball.

22. (Oktober 1911) Gestern bei den Juden "Kol-Nidre" von Scharkansky ziemlich schlechtes Stück mit einer guten witzigen Briefschreibscene, einem Gebet der nebeneinander mit gefalteten Händen aufrecht stehenden Liebenden, dem Anlehnen des bekehrten Großinquisitors an den Vorhang der Bundeslade, er steigt die Stufe hinauf und bleibt dort den Kopf geneigt die Lippen am Vorhang stehn, hält das Gebetbuch vor seine klappernden Zähne. Zum erstenmal an diesem vierten Abend meine deutliche Unfähigkeit einen reinen Eindruck zu bekommen. Schuld daran war auch unsere große Gesellschaft und die Besuche beim Tisch meiner Schwester. Trotzdem, so schwach hätte ich nicht sein dürfen. Mit meiner Liebe zur Frau Tschissik, die nur durch Max neben mir saß, habe ich mich elend aufgeführt. Ich werde aber wieder hinaufkommen, schon jetzt ist es besser.

Frau Tschissik (ich schreibe den Namen so gerne auf) neigt bei Tisch auch während des Gansbratenessens gern den Kopf, man glaubt unter ihre Augenlider mit dem Blick zu kommen, wenn man zuerst vorsichtig die Wangen entlangschaut und dann sich kleinmachend hineinschlüpft, wobei man die Lider gar nicht erst heben muß, denn sie sind gehoben und lassen eben einen bläulichen Schein durch, der zu dem Versuch verlockt. Aus der Menge ihres wahren Spiels kommen hie und da Vorstöße der Faust, Drehungen des Armes, der unsichtbare Schleppen in Falten um den Körper zieht Anlegen der gespreizten Finger an die Brust weil der kunstlose Schrei nicht genügt. Ihr Spiel ist nicht mannigfaltig: das erschreckte Blicken auf ihren Gegenspieler, das Suchen eines Auswegs auf der kleinen Bühne, die sanfte Stimme, die in geradem kurzen Aufsteigen nur mit Hilfe größeren innerlichen Widerhalls ohne Verstärkung heldenmäßig wird, die Freude, die durch ihr sich öffnendes, über die hohe Stirn bis zu den Haaren sich ausbreitendes Gesicht in sie dringt, das Sichselbstgenügen beim Einzelgesang ohne Hinzunahme neuer Mittel, das Sichaufrichten beim Widerstand, das den Zuschauer zwingt, sich um ihren ganzen Körper zu kümmern; und nicht viel mehr. Aber da ist die Wahrheit des Ganzen und infolgedessen die Überzeugung daß ihr nicht die geringste ihrer Wirkungen genommen werden kann.

Das Mitleid, das wir mit diesen Schauspielern haben, die so gut sind und nichts verdienen und auch sonst bei weitem nicht genug Dank und Ruhm bekommen, ist eigentlich nur das Mitleid über das traurige Schicksal vieler edler Bestrebungen und vor allem der unseren. Darum ist es auch so unverhältnismäßig stark, weil es sich äußerlich an fremde Leute hält und in Wirklichkeit zu uns gehört. Trotzdem ist es aber mit den Schauspielern immerhin so eng verbunden, daß ich es nicht einmal jetzt von ihnen lösen kann. Weil ich es erkenne, bindet es sich zum Trotz noch mehr an sie.

Die auffallende Glätte der Wangen der Frau Tschissik neben ihrem muskulösen Mund. Ihr etwas unförmiges kleines Mädchen

Mit Löwy und meiner Schwester 3 Stunden spazieren.

23. (Oktober 1911) Die Schauspieler überzeugen mich durch ihre Gegenwart immer wieder zu meinem Schrecken, daß das meiste was ich bisher über sie aufgeschrieben habe, falsch ist. Es ist falsch, weil ich mit gleichbleibender Liebe (erst jetzt da ich es aufschreibe, wird auch dieses falsch) aber wechselnder Kraft über sie schreibe und diese wechselnde Kraft nicht laut und richtig an die wirklichen Schauspieler schlägt sondern dumpf sich an dieser Liebe verliert, die mit der Kraft niemals zufrieden sein wird und deshalb dadurch, daß sie sie aufhält, die Schauspieler zu schützen meint.

Streit zwischen Tschissik und Löwy. T.: Edelstatt ist der größte jüdische Schreiber. Er ist erhaben. Rosenfeld ist natürlich auch ein großer Schreiber aber nicht der erste. Löwy: Tsch. ist Socialist und weil Edelstatt social. Gedichte macht, er ist Redakteur einer soc. jüdischen Zeitung in London, deshalb hält ihn Tsch. für den größten. Aber wer ist Edelstatt, seine Partei kennt ihn, sonst niemand, aber Rosenfeld kennt die Welt. – Tsch.: Auf die Anerkennung kommt es nicht an. Alles von Edelstatt ist erhaben. – L.: Ich kenne ihn ja auch genau. Der Selbstmörder z. B. ist sehr gut. – Tsch.: Was hilft der Streit? Einigen werden wir uns nicht. Ich werde meine Meinung bis morgen sagen und Du auch. – L.: Ich bis übermorgen.

Goldfaden, verheirathet, Verschwender, auch in großer Noth. An 100 Stücke. Gestohlene liturg. Melodien volkstümlich gemacht. Das ganze Volk singt sie. Der Schneider bei seiner Arbeit (wird nachgemacht) das Dienstmädchen

U. S.W.

Bei so kleinem Raum fürs Anziehn muß man wie Tschissik sagt in Streit kommen. Man kommt aufgeregt von der Scene, jeder hält sich für den größten Schauspieler, tritt da einer dem andern z. B. auf den Fuß, was nicht zu vermeiden ist, so ist nicht nur ein Streit fertig, sondern ein großer Kampf. Ja in Warschau, da waren 75 kleine Einzelgarderoben, jede beleuchtet

Um 6 Uhr traf ich die Schauspieler in ihrem Kaffeehaus um zwei Tische herum, nach den 2 feindlichen Gruppen geordnet, sitzen. Auf dem Tisch der Tsch. Gruppe war ein Buch von Perez. L. hatte es eben geschlossen und stand auf um mit mir wegzugehn.

Bis 20 Jahren war L. ein bocher, der studierte und seines wohlhabenden Vaters Geld ausgab. Es war da eine Gesellschaft gleichaltriger, junger Leute, die gerade am Samstag in einem abgesperrten Lokal zusammenkamen und im Kaftan rauchten und sonst gegen die Feiertagsgebote sündigten.

"Der große Adler" der berühmteste jiddische Schauspieler aus New York, der Millionär ist, für den Gordon "den wilden Menschen" geschrieben hat und den L. in Karlsbad gebeten hat, ja nicht zur Vorstellung zu kommen, der er vor ihm auf ihrer schlecht ausgestatteten Bühne zu spielen nicht den Muth hätte. – Nur Dekorationen, nicht diese elende Bühne, auf der man sich nicht bewegen kann. Wie werden wir den wilden Menschen spielen! Dort braucht man ein Divan. Im Krystallspalast Leipzig war es großartig. Fenster, die man aufmachen konnte, die Sonne schien herein, man brauchte im Stück einen Thron, gut da war ein Thron, ich gieng durch die Menge zu ihm hin und war wirklich ein König. Da ist viel leichter zu spielen. Hier beirrt einen alles.

24. (Oktober 1911) Die Mutter arbeitet den ganzen Tag, ist lustig und traurig, wie es kommt, ohne mit eigenen Zuständen im geringsten in Anspruch zu nehmen ihre Stimme ist hell, zu laut für das gewöhnliche Sprechen, aber wohltätig wenn man traurig ist und nach einiger Zeit plötzlich sie hört. Seit längerer Zeit klage ich schon, daß ich zwar immer krank bin, niemals aber eine besondere Krankheit habe, die mich zwingen würde, mich ins Bett zu legen. Dieser Wunsch geht sicher zum größten Teil darauf zurück, daß ich weiß, wie die Mutter trösten kann, wenn sie z. B. aus dem beleuchteten Wohnzimmer in die Dämmerung des Krankenzimmers kommt oder am Abend, wenn der Tag einförmig in die Nacht überzugehn anfangt aus dem Geschäft zurückkehrt und mit ihren Sorgen und raschen Anordnungen den schon so späten Tag noch einmal anfangen läßt und den Kranken aufmuntert, ihr dabei zu helfen. Das würde ich mir wieder wünschen, weil ich dann schwach wäre, daher von allem überzeugt, was die Mutter täte und mit der deutlicheren Genußfähigkeit des Alters kindliche Freuden haben könnte. Gestern fiel mir ein, daß ich die Mutter nur deshalb nicht immer so geliebt habe, wie sie es verdiente und wie ich es könnte, weil mich die deutsche Sprache daran gehindert hat. Die jüdische Mutter ist keine "Mutter", die Mutterbezeichnung macht sie ein wenig komisch (nicht sich selbst, weil wir in Deutschland sind) wir geben einer jüdischen Frau den Namen deutsche Mutter, vergessen aber den Widerspruch, der desto schwerer sich ins Gefühl einsenkt, "Mutter" ist für den Juden besonders deutsch, es enthält unbewußt neben dem christlichen Glanz auch christliche Kälte, die mit Mutter benannte jüdische Frau wird daher nicht nur komisch sondern auch fremd. Mama wäre ein besserer Name, wenn man nur hinter ihm nicht "Mutter" sich vorstellte. Ich glaube, daß nur noch Erinnerungen an das Ghetto die jüdische Familie erhalten, denn auch das Wort Vater meint bei weitem den jüdischen Vater nicht.

Heute stand ich vor dem Rat Lederer, der sich unerwartet, ungebeten, kindisch, lügenhaft lächerlich und zum Ungeduldigwerden nach meiner Krankheit erkundigte. Wir hatten schon lange oder vielleicht noch überhaupt nicht so intim gesprochen, da fühlte ich, wie sich mein, von ihm noch nie so genau betrachtetes Gesicht für ihn in falsche, schlecht aufgefaßte aber ihn jedenfalls überraschende Partien eröffnete. Für mich war ich nicht zu erkennen. Ihn kenne ich ganz genau.


Revision: 2021/01/09 - 23:40 - © Mauro Nervi




Top Back Print Search Sitemap Tip Login