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2024/04/18 - 22:44

"Ein junger ehrgeiziger Student" (1914-1915)

Ein junger ehrgeiziger Student, der sich für den Fall der Pferde von Elberfeld sehr interessiert und alles was über diesen Gegenstand im Druck erschienen war genau gelesen und überdacht hatte, entschloß sich auf eigene Faust Versuche in dieser Richtung anzustellen und die Sache von vornherein ganz anders und nach seiner Meinung unvergleichlich richtiger anzufassen als seine Vorgänger. Seine Geldmittel allerdings waren an sich unzureichend, um ihm Versuche im großen Ausmaße zu ermöglichen, und wenn das erste Pferd, das er für seine Versuche ankaufen wollte, sich als starrköpfig erweisen würde, was selbst bei angestrengtester Arbeit erst nach Wochen festgestellt werden kann, so hätte er für längere Zeit keine Aussicht gehabt, mit neuen Versuchen zu beginnen. Doch war er dadurch nicht übermäßig geängstigt, weil nach seiner Methode wahrscheinlich jede Starrköpfigkeit überwunden werden konnte. Jedenfalls gieng er seiner vorsichtigen Natur entsprechend schon bei der Berechnung des Aufwandes, der ihm erwachsen würde, und der Mittel die er aufbringen könnte, ganz planmäßig vor. Den Betrag, den er während des Studiums zum knappen Lebensunterhalt benötigte, hatten ihm bisher seine Eltern, arme Geschäftsleute in der Provinz, regelmäßig jeden Monat geschickt, auf diese Unterstützung gedachte er auch weiterhin nicht zu verzichten, trotzdem er natürlich sein Studium, welches die Eltern von der Ferne mit großen Hoffnungen verfolgten, unbedingt aufgeben mußte, wenn er auf dem neuen Gebiet, das er jetzt betreten würde, die erwarteten großen Erfolge erzielen wollte. Daran daß die Eltern für diese Arbeiten Verständnis haben oder ihn etwa gar darin fördern würden, war nicht zu denken, er mußte ihnen also seine Absichten, so peinlich ihm das war, verschweigen und sie in dem Glauben erhalten, daß er in seinem bisherigen Studium regelmäßig fortschreite. Diese Täuschung seiner Eltern war nur eines der Opfer, die er sich zum Nutzen der Sache auferlegen wollte. Zur Deckung der voraussichtlich großen Kosten, welche für seine Arbeiten erforderlich sein würden, konnte der Beitrag der Eltern nicht genügen. Der Student wollte daher von nun ab den größten Teil des Tages, der bisher seinem Studium gedient hatte, zur Erteilung von privaten Unterrichtsstunden verwenden. Der größte Teil der Nacht aber sollte der eigentlichen Arbeit dienen. Nicht nur weil er durch seine ungünstigen äußern Verhältnisse dazu gezwungen war, wählte der Student die Nachtzeit für den Unterricht des Pferdes aus, auch die neuen Grundsätze, die er in den Unterricht der Pferde einführen wollte, verwiesen ihn auf die Nacht aus verschiedenen Gründen. Auch die kürzeste Ablenkung der Aufmerksamkeit des Pferdes bedeutete seiner Meinung nach für den Unterricht einen unheilbaren Schaden, davor war er in der Nacht möglichst sicher. Die Reizbarkeit, von der Mensch und Tier, wenn sie in der Nacht wachen und arbeiten, ergriffen werden, war in seinem Plan ausdrücklich verlangt. Er fürchtete nicht wie andere Sachverständige die Wildheit des Pferdes, er forderte sie vielmehr, ja er wollte sie erzeugen, zwar nicht durch die Peitsche aber durch das Reizmittel seiner unablässigen Anwesenheit und des unablässigen Unterrichts. Er behauptete im richtigen Unterricht der Pferde dürfe es keine einzelnen Fortschritte geben, einzelne Fortschritte, deren sich in der letzten Zeit verschiedene Pferdeliebhaber so übermäßig rühmten, seien nichts anderes als entweder Erzeugnisse der Einbildung der Erzieher oder aber, was noch schlimmer sei, das deutlichste Zeichen daß es zu einem allgemeinen Fortschritt niemals kommen werde. Er selbst wollte sich vor nichts anderem so hüten als vor der Erzielung einzelner Fortschritte, die Genügsamkeit seiner Vorgänger die mit dem Gelingen kleiner Rechenkunststücke schon etwas erreicht zu haben glaubten, erschien ihm unbegreiflich, es war so als wenn man in der Kindererziehung damit einsetzen wollte, daß man dem Kind, gleichgültig ob es gegen die ganze Menschenwelt blind, taub und gefühllos war, nichts anderes als das kleine Einmaleins einbläute. Das war alles so töricht und die Fehler der andern Pferdeerzieher erschienen ihm manchmal so abschreckend grell, daß er dann sogar Verdacht gegen sich selbst faßte, denn es war ja fast unmöglich, daß ein Einzelner, überdies ein unerfahrener Einzelner, den nur eine unüberprüfte aber allerdings tiefe und geradezu wilde Überzeugung vorwärtstrieb, gegenüber allen Kennern Recht behalten sollte.


Revision: 2021/01/09 - 23:40 - © Mauro Nervi